(…) später las ich ein interview mit kito lorenc: (…) ich kannte keine rätselvollere erwartung als jene auf die wunder, die sich mir offenbaren würden, könnte ich erst die papiere [seines großvaters jakub lorenc-zalěski, der ebenfalls literarisch tätig, und zwar in sorbischer sprache] aus dem schränkchen lesen, ja wohl überhaupt auch in der andern sprache leben: (…) wenn ich stubenhocker in den schulferien am schreibtisch saß und während mein „praktischerer“ bruder auf dem holzplatz beim bretterstapeln helfen musste, erste versuche in großvaters nautischen künsten unternahm auf deutsch vorerst noch, so ließ mein vater mich widerstrebend und heimlich stolz gewähren. (…) öfter und öfter besuchte ich dann das großvater-land, erfuhr es, erschrieb es mir immer noch auch mit sorbischen gedichten und indem ich es mir und andern ins deutsche „übersetze“. (…) gewiss sollte jedes literarische einzelwesen in einem möglichst frühen stadium seiner ontogenese die literarische phylogenese gerafft und andeutungsweise wiederholen. (…) – diese worte erzeugten eine schillernde, vielfältige resonanz: ich erinnere mich, wie ich hinter jeder ecke, in die ich nicht blicken konnte, ein wunder vermutete, nur vor meinen augen geschahen sie nie. in einer subtileren form vermute ich sie unter einer dünnen schicht von naivem realismus noch immer; ich weiß, dass es zaubersprüche gibt, ein richtiges wort zur richtigen zeit gesprochen, löst alle bande auf, vielleicht nennt man so etwas zivilcourage, vielleicht erfordert es einsicht. ich war der stubenhocker und der „praktischere“ bruder zugleich, hin- und hergerissen zwischen dem papier auf dem tisch und der arbeit auf dem hof bin ich noch immer. ich habe noch nicht so richtig verinnerlicht, dass es keinen unterschied zwischen der arbeit auf dem hof und auf dem papier gibt, weil ich noch so sehr verinnerlicht habe, dass es einen gäbe. das erbe der herkunft, das erbe von protestantischer arbeitsethik. man kann sich nie so ganz aus dem ei schälen, in das man geboren wurde. mir schien allezeit, dass meine erkundungen auf dem papier, meine arbeit auf dem papier, eher widerstrebend als heimlich stolz beobachtet und gutgeheißen wurde. im zweifel war es wohl … gleichgültigkeit. das bewahrte mich einerseits vor einer überschätzung meiner fähigkeiten und deren früchte, andererseits trug diese haltung aber auch nicht zu mutiger entschlossenheit bei, diese fähigkeiten zu gebrauchen und mit ihren ergebnissen zu markte zu gehen. aber man kann nicht gegen seine natur und diese natur ist wohl in meinem fall die arbeit auf dem papier: ich streife durch mein großvater-land, erlaufe es, erschreibe es mir mit gedichten – frei nach reiner kunze, wonach das gedicht der blindenstock des dichters sei. vielleicht ist eine vielzahl dieser texte und gedichte, die in diesem zusammenhang entstehen, gar nicht so wichtig bezogen auf sich selbst, vielleicht kommt es erst in zweiter linie auf ihre qualität an – vielleicht dienen diese texte und gedichte, ganz im sinne der pechblende, zunächst vor allem dazu, die sinne zu schärfen und die fülle der eindrücke zu erhöhen. was mir einfällt, ist was mir auffällt. wenn es daneben und darüber hinaus, wenn bei diesen verortungen gelungene texte und gedichte entstehen, die auch auf sich selbst bezogen wirken – um so besser. (kito lorenc. wortland. gedichte, leipzig 1984, s. 157f.)
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