eine dokumentation über münchner 1968er. immer wieder ist die rede vom krieg, der die eltern der 68er prägte und verstummen ließ. war da nicht noch mehr? spricht jemand von auschwitz, treblinka, majdanek, spricht es irgendjemand aus? ist irgendwo die rede davon, was mit der gesellschaft dieses landes im vergangenen jahrhundert geschah?

man muss immer vorab noch einmal betonen: ich will nichts gleichsetzen. stellt jemand laut und vernehmlich die frage, was geschehen ist mit dieser gesellschaft, erst recht mit jenem teil, der auch noch eine zweite, zweifelsohne ganz anders geartete diktatur ertragen musste, konnte, wollte?

lautes brüllen reicht nicht aus, bei weitem nicht: vater, mutter was habt ihr getan, warum habt ihr nichts getan? so einfach ist es nicht.

man kann sich auch hinter der kerze verstecken, die man vor sich herträgt, und mit dem an- und wehklagen, das man mantra- und gebetsmühlenartig wiederholt, viele fragen übertönen. die leute sind nicht die andern, ich gehöre zu ihnen.

die leute, die schlecht über ausländer reden. die leute, die schwarz arbeiten. die leute, die lieber von der stütze leben als zu arbeiten. die leute, die energie verschwenden. die leute, die lieber argentinisches rindfleisch essen als kartoffeln und äpfel von nebenan. die leute, die den schrank voll haben von kleidungsstücken und schuhen, genäht und gefertigt von malaysierinnen, die keinen mindestlohn haben. die leute, die leute, die leute. ich gehöre dazu, immer gehöre ich zu ihnen.

die zeit, die ich länger im bett liege, um zu träumen, muss mein antipode eher aufstehen und länger arbeiten.

dieser autoritäre anspruch, allein zu wissen, was demokratie sei und wie geschichte aufzuarbeiten ist. autoritär im antiautoritären, intolerant in der toleranz, konform im inkonformen. man erkennt den neoliberalen finanzmarktkapitalisten nicht an den kurzen haaren und der krawatte.

als ich vor vielleicht anderthalb jahren auf dem lindenauer markt an der straßenbahnhaltestelle wartete, zwei lederne taschen in der hand, grummelte hinter mir jemand: … so schwer trägt der kapitalist.

marx an die uni! schreien und glauben, alles werde gut. – was weiß ich, was demokratie ist und wie man geschichte aufarbeitet.

wer an europa verzweifelt, sollte soldatenfriedhöfe besuchen (jean-claude juncker).

wie vermittelt man die aus krieg, gewalt und diktatur gewonnene primärerfahrung der weltkriegsgenerationen an diejenigen, die nicht mehr darunter zu leiden hatten. immerhin lebt in europa, sieht man einmal vom kalten krieg einerseits und von den balkankriegen in den neunziger jahren andererseits ab, mittlerweile die dritte, bald vierte generation, die krieg und gewalt nicht mehr persönlich in ihrer heimat erlebt hat, die nicht in uniformen oder lager gesteckt wurde, die nicht vertrieb und nicht vertrieben wurde – eine ganz und gar außergewöhnliche, exzeptionelle erscheinung, wie man nicht müde werden kann zu betonen.

die physik, chaostheorie, thermodynamik lehren, dass bereits energie notwendig, arbeit zu leisten ist, damit der gegebene, überkommene zustand sich nicht auflöst und zusammenbricht. die zivilisation ist nur ein sehr dünner überzug. wenn man nicht ständig aufpasst, stürzen wir alle ab und finden uns wieder hinter stacheldraht als bewachte oder bewacher, im schützengraben vor dieser oder jener stadt und früher oder später in der hölle, so oder so. ich bin nicht negativ.

ich gehe durch die stadt und frage mich, wer von denen, die mir begegnen, den widerstandsgeist aufbrächte, sich nicht verstricken zu lassen. wer würde es ablehnen, diese oder jene volksfeinde zu benennen, zu bewachen, zu … wer sagte: bis hierher und nicht weiter. wer sagte: nein. auch ich lehnte es wohl nicht ab, auch ich leistete keinen widerstand, nicht als wächter, nicht als bewachter. wie bewahrt man, wie entwickelt man renitenz? wie bleibt, wird man ein mensch? vielleicht ist das sehr dick aufgetragen, aber zuweilen ist pathos unumgänglich, manche dinge müssen dicker aufgetragen, lauter gesagt werden.

ein paar millionen klimaflüchtlinge in europa und ein weltweiter verteilungskampf um ressourcen, der so eine schärfe gewinnt, dass er nicht mehr mit den mechanismen des marktes, sondern mit der waffe geführt wird.

als mein großvater so alt war, wie ich zu dem zeitpunkt, als er starb, ein wenig älter als 26, das muss ungefähr weihnachten 1945 gewesen sein, hatte er die größten herausforderungen seines lebens hinter sich – mir stehen, scheint mir, die größten herausforderungen meines lebens erst noch bevor. damit ist keinesweg die verfolgung einer bürgerlichen karriere gemeint, mit ihren chancen und herausforderungen, die schwierig genug zu meistern sind.

es kann einem grausen, wenn man sich umsieht und darüber nachdenkt, was werden kann. zweifel bekommt man einmal mehr, ob es richtig ist, was man tut. es geht nicht um das gendern der sprache … ach.

wer an europa verzweifelt, sollte soldatenfriedhöfe besuchen. wer nicht weiß, was er kaufen soll, ein flüchtlingslager an europas mittelmeerküste. das ist keine linke oder grüne spinnerei, schon allein deshalb nicht, weil ich so manchem grünen und linken als neoliberales arschloch gelte, als rechtskonservativer und nazi …

ein feature über den „kuturfunktionär“ heute, darin zutreffende beobachtungen: man kommt montags morgen mit elan ins büro, nimmt sich vor, eine reihe wichtiger briefe zu schreiben und dann beginnt die erste sitzung, 13 uhr ist sie beendet, aber es geht so weiter die ganze woche durch, bis man sich am freitag nachmittag entsetzt fragt, warum man noch immer nicht die zeit fand für die briefe. – in manchen sitzungen notiere ich gedichte, wie sie mir in den sinn kommen, nichts tiefgründiges, so zeilen eben. zum einen wirkt dadurch das gesprochene ringsumher rätselhafter und damit interessanter, zum andern bin ich hernach (hernach, wie hermann lenz sagen würde …) weniger grummelig über die vergeudete zeit. und die imagination von späteren unterhaltungen über mein verhalten in solchen sitzungen ist die zugabe: „er saß immer da und kritzelte in sein notizbuch …“

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