… und unsern kranken nachbarn auch: diese merkwürdigen matthias-claudius-stimmungen im hochsommer.

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die stadt, die auf dem berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. steil aus dem tal steigt sie, strebt sie, stiehlt sie sich – und wenn die ballerina, die auf der kirchturmspitze balanciert, ihre arme reckt, reicht sie mit den fingerspitzen fast an den rock=saum der vorüberfliegenden jahresendfigur, die spitze ohren hat unter den locken, aber sie längst nicht mehr spitzt. wer, wenn wir hilfe schrieen, hörte uns schon … wir kreisen um gott, den uralten turm und wissen noch nicht genau, was wir sind oder zu sein vermögen: falken, stürme, großer gesänge; kleinwagner steht im stau und singt mit den übrigen, vielleicht einen lobgesang, vielleicht ein klagelied, jedenfalls über den fortschritt – und unten im innenhof schlurft walter kempowski in holzpantinen durch den schnee und notiert sich das wütende gemurmel der hunde aus dem souterrain.

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vor einigen tagen hatte ich unterwegs den einfall, eine ortsbestimmung mithilfe der postmeilensäule auf dem markt in j. anzufertigen: vierundachtzig wegstunden von breslau, dreiundsechzig-einhalb von berlin, vierundvierzig-einviertel von görlitz, … am abend versuchte ich, die entfernungsangaben anhand von fotografien zusammenzustellen, die ich am sonnabend gemacht hatte. dabei kam ich auf die idee, die ortsangaben auf den postmeilensäulen zu kartieren, und derart aufschluss zu erlangen einmal über den raum, der mit den postmeilensäulen konstruiert wird, und einmal über die raumvorstellungen, die dieser konstruktion zugrunde liegen. beispielsweise wird der raum der postmeilensäule in j. von berlin im norden, breslau im osten, prag („praag“) im süden und nürnberg im westen be-grenzt, allerdings ist letzteres ohne entfernungsangabe versehen. es handelt sich also um ein stück kontinentales mitteleuropa ohne jede berührung zum meer, weder zur ostsee hin noch zur adria.

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abends ein polizeiruf aus dem jahr 1985, der in gewisser weise untergründig die konflikte anspricht, die sich aus dem aufeinandertreffen eines polyamoren arrangements und traditioneller moralvorstellungen ergeben; einmal mehr die beobachtung, dass in den polizeirufen der ddr lebenswirklichkeiten geschildert wurden, die weder mit dem alltag der bevölkerung noch offenbar mit der ideologie des arbeiter- und bauernstaates übereinstimmten. es mag sein, dass man sie so lesen kann, als entwickelte sich kriminalität nur in milieus, die noch resten von bürgerlichkeit anhingen und sei es in form verblendeter nachahmung – aber mit diesen szenerien wurden die sehnsüchte des publikums angeheizt, es wurde nicht im sinne der ideologie erzogen, sondern im gegenteil davon entrückt. die frage ist, ob die autoren unter vorspiegelung der ersten lesart den entscheidungsträgern die drehbücher unterjubelten – oder ob es mehr oder minder unbewusst geschah, sowohl von seiten der fernsehleute als auch bei den funktionären. dies lieferte letzten endes einen weiteren beleg für die these, dass unter der oberfläche der sozialistischen ideologie (klein-)bürgerlichkeit und kapitalismus fröhliche urständ feierten. das müsste alles genauer betrachtet werden, ich greife hier nur ins trübe und formuliere allenfalls binsenweisheiten. allein aus der flüchtigen beobachtung reime ich mir dieses und jenes zusammen, weder kenne ich die quellen tiefgründig genug, noch die literatur, um thesen zu bilden, die ich verteidigen könnte. – später noch der erste teil der bach-serie ebenfalls aus dem (jubiläums-)jahr 1985. oberflächlich die karrikierung des feudalismus mit seinen einfältigen aristokraten und rückgratlosen dienern; auf den zweiten blick aber die feier des nationalen erbes, welche – wohl eher unbewusst als beabsichtigt und eher mittelbar – die regionale identität in mitteldeutschland stärken half, die reste der bürgerlichkeit, die nachgeahmte bürgerlichkeit der studierten arbeiter- und bauernkinder, die widerspenstigkeit gegen den preußisch empfundenen sozialismus aus berlin: unser bach, unser dresden, weimar, köthen, … unsere tradition – oh täler weit, oh höhen, habe ein chor auf dem moskauer flughafen spontan gesungen, als er von christa wolf im herbst 1989 von der gewaltlosigkeit der leipziger demonstrationen erfuhr. indem die groteske situation bachs als untertan und damit letzten endes besitz des weimarer herzogs geschildert wird (es werden mit thomasius und pufendorf die beiden bedeutendsten zeitgenössischen rechtstheoretiker mitteldeutschlands zitiert), entlarvt die schilderung meines erachtens für jeden zuschauer aus dem jahr 1985, der es sehen wollte, die reisebeschränkung durch den sozialistischen staat und seine auffassung von staatsbürgerschaft, die an den verspotteten kasernenhof des soldatenkönigs erinnert, wo (heimliche) ausreise mit fahnenflucht gleichgesetzt wurde. die kontinuität des untertanenverhältnisses zur obrigkeit in mitteldeutschland zwischen dem frühen achtzehnten und dem späten zwanzigsten jahrhundert, die parallele zwischen den „spätfeudalistischen duodezfürsten“ und den parteifunktionären muss dem wachen teil des publikums klar vor augen gestanden haben.

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unlängst las ich in einer kurzen mitteilung über den tod bogdan bogdanovićs, man erschlösse sich eine stadt, indem man sie durchwanderte.1 zum einen wurde ich an gerhard grafs eindrückliches diktum erinnert, die landschaft sei die quelle, zum andern mit bogdanovićs belgrader hintergrund unwillkürlich an karl schlögels und claudio magris‘ flanierendes verfahren kultur- und literaturgeschichtlicher erkundungen einer weltprovinz. ich dachte an leipzig und meine gelegentlichen, aber unsystematischen und unsteten streifzüge durch seine straßen; als ich vor jahren einmal abends auf dem weg zu u. das elsterflutbecken überquerte, fiel mir ein, leipzig sei zwar nicht die welt, aber in einem literarischen modus könnte man es pars pro toto dafür gelten lassen; und später einmal, auf dem mitternächtlichen rückweg von s. setzte ich mich im palmengarten an das elsterufer und beobachtete, wie das wasser erschöpft an mir vorüberfloss, und ich war mir für augenblicke nicht sicher, ob es sich bei den häusern und lichtern ringsher um die urbs lipsia oder eine namenlose afrikanische metropole an naipauls biegung des großen flusses handelte, ja im trägen glucksen des flusses hielt ich es sogar für möglich, dass eine wasserfrau daraus entsteigen könnte und mich in das atlantische landgut des studenten anselmus und seiner geliebten serpentina geleiten. ich trug mich folglich schon geraume zeit mit dem gedanken, die wanderungen, erkundungen, streifzüge durch leipzig unter dem gesichtspunkt der stadt-erschließung wieder aufzunehmen, fortzusetzen, auszuweiten. als ich schließlich vormittags im radio einen seelenforscher empfehlen hörte, sich zu bewegen, um das selbstwirksamkeits-empfinden zu stärken und einer allgemeinen niedergeschlagenheit vorzubeugen,2 hielt es mich kaum noch auf meinem stuhl vor meinem bildschirm an meinem schreibtisch.

taborkirche, kleinzschocher.

 

bahnhof plagwitz.

 

1 richard swartz, der katzenlehrer. architekt und schriftsteller: bogdan bogdanović gestorben, in: sz vom 21.06.10, s. 11.

2 „(…) also, ich denke, wir alle bewegen uns zu wenig. das klingt zwar ein bisschen banal jetzt, aber es sind vielleicht ein bis zwei kilometer, die wir am tag noch uns bewegen. wir wissen, dass bewegung antidepressiv wirksam ist und auch das selbstwirksamkeitserleben stärkt.“ (frank vitinius im dlf, vgl. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1236755/, letzter zugriff: 31.07.10).

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mitunter stelle ich mir die entrüstung und die kopfschüttelnde ablehnung manches gelehrten über die veröffentlichung autobiografischer notizen vor: so etwas tut man einfach nicht, wenn man als wissenschaftler ernst genommen werden möchte … – aber dann denke ich an die disziplinierende wirkung, die so eine veröffentlichung auf die konstruktion des eigenen lebenslaufs zu entfalten vermag – und bin überzeugt, das richtige zu tun, denn unter dem mantel der nüchternheit liegt in der prosa von gelehrtenkurzviten ein tonfall von ungebrochenem pathos. ein selbstreflektierender geisteswissenschaftler – was wäre mehr zu wünschen? andererseits muss ich mir selbst eingestehen, dass ich bei aller offenheit und widersprüchlichkeit in diesen notaten mancherlei bemerkungen nicht veröffentliche, ja zuweilen nicht einmal notiere – insofern ist es mit der aufrichtigkeit auch nicht so sehr weit her. wie man es auch dreht und wendet, wie man sich auch dreht und wendet, es bleibt dabei: man inszeniert sich immer, denn soviel man auch preisgibt, die ganze eigene wirklichkeit kann man nicht preisgeben, teils der selbstachtung wegen (wobei das nur eine annahme wäre, die bewiesen bzw. widerlegt werden müsste), teils wegen der beschränktheit der eigenen perspektive. es gibt immer eine auswahl und auswahl bedeutet komposition, sei es bewusst oder un- und unterbewusst. man kann sich weder ganz von außen betrachten, noch ist man imstande, alle brillen abzulegen, die man sich seit frühester kindheit aufgesetzt – oder aufgesetzt bekommen hat.

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auf dem weg in die bibliothek sann ich über den sinn und zweck meiner erzgebirgsstudien nach. zuletzt geht es mir wohl darum, die geistige signatur dieser gewerbelandschaft nachzuzeichnen: zum einen um auf diese weise eine literaturgeografie, zumindest für mich selber, zu schreiben und damit den anscheinend ungemein dichten text-codierungen auf die spur zu kommen, die auf der landschaft liegen bzw. in sie eingeschrieben sind – und die dem sensiblen kundschafter in allen gegenständen präsent zu sein scheinen, in wirklichkeit aber nur halbverborgene elemente eines äußerst dichten kulturellen gedächnisses darstellen; zum anderen aber darum, anhand der entwicklung dieser gewerberegion bis in ihre industrialisierung hinein die bedeutung geisteswissenschaftlicher bildung für technische innovation, wo nicht zu beweisen, so doch zumindest einen zusammenhang plausibel erscheinen zu lassen.

hans-peter friedrich in seinem debattenbeitrag zur aussprache über die griechenlandhilfe: „(…) tatsache ist (…), jeder staat, jedes land, jede volkswirtschaft ist nur so wohlhabend, wie die menschen in dieser volkswirtschaft fleiß, ehrgeiz, leistungsbereitschaft, disziplin mitbringen (…) eine währung ist die geronnene leistungskraft einer volkswirtschaft (…)“.1 diese rhetorik, die sich so beredt und kundig gibt („geronnene leistungskraft“), aber zuletzt nur die verkürzte und enggeführte zusammenfassung eines wirtschaftswissenschaftlichen proseminars liefert, ist – erschütternd und niederschmetternd: so etwas wird einem angeboten, dass man beeindruckt sein und nicht weiter nachfragen soll. was helfen denn „fleiß, ehrgeiz, leistungsbereitschaft, disziplin“ einer teepflückerin in kashmir, einer näherin in indien, einer mutter in den slums von nairobi? das ist das problem der wirtschaftswissenschaftler: sie verfügen eben über kein historisches verständnis und haben keine sozial- und wirtschaftshistorischen kenntnisse. annahmen der klassischen ökonomie (adam smith) werden mantraartig wiederholt, was bestenfalls ein ausweis spätmoderner frömmigkeit ist, die ins wirtschaftliche transponiert wurde. aber welche mentalitäten und sozioökonomischen strukturen die welt prägten, die adam smith vor augen hatte und aus der heraus er seine überlegungen formulierte, die scheinen dem vergangenheitsblinden wirtschaftswissenschaftler unerheblich. manchmal möchte man einfach nur schreien – wenn das denn etwas hülfe …

1 redebeitrag von hans-peter friedrich (cdu/csu) vom 05.05.10, 10.24 uhr ff. (39. sitzung, top zp 1, 1); siehe auch: http://webtv.bundestag.de/iptv/player/macros/_v_f_514_de/od_player.html?singleton=true&content=603646.

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unschlüssig wie ich bin vor lauter aufgaben und herausforderungen, wusste ich nicht, was ich tun oder genauer: wo ich anfangen sollte. deshalb nahm ich mir die zeitung vom tage, setzte mich auf den balkon in die sonne und begann zu lesen. aber es dauerte nicht lang und die assoziations- und textproduktionsmaschine im großhirn sprang an. indes hatte ich keine lust, mich an die tastatur und vor den bildschirm zu setzen; zuweilen erzeugt das textbild einen unerträglichen perfektionsdruck – während man einfach nur ein paar dinge notieren möchte, ins ungefähre, grob, probehalber, übungsweise … daher nahm ich mir meinen füllfederhalter und einen stapel dinasechskleiner zettelchen, die ich beschrieb, auf dem balkon, in der sonne. zum einen löst die begrenzte fläche dieser zettel, von denen einer sehr zügig gefüllt ist, den perfektionsdruck und erzeugt statt dessen eine art schreibrausch oder zettelfüllwut, zum andern bereitete es mir ungemeine freude, das papier mit schrift zu füllen, schon der grafische eindruck unabhängig vom inhalt (content …) war enorm. daniel kehlmann bemerkte einmal, dem schriftsteller müsse es vergnügen bereiten, papier mit zeichen, worten, sätzen zu füllen. vielleicht steht dieser in vielfältiger weise sinnliche eindruck vor allem anderen: das kratzen, schaben, huschen des federhalters, bleistiftes übers papier, die grafische spannung zwischen den linien der zeichen und der struktur des papiers, das bei genauem hinsehen gar nicht so makellos ist, wie es von ferne scheint. derart entstand ein kleiner zettelstapel und ich war darüber ungemein erleichtert und froh. schreiben, einerlei was, sonst finde ich keine gelassenheit für den tag, schreiben vor allem andern.

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