beim späten erwachen höre ich den sound von hermann lenz. aber das wusste eugen ja alles. er lief unter dem buntgewordenen bergahorn und beobachtete die jungen leute, die auf decken im park lagen und nicht wahrhaben wollten, dass der sommer vorbei war.

lenz: er stand spät auf, was ihm nicht recht war. vielleicht wäre es ihm möglich gewesen, dies zu ändern, doch hätte er dafür ein willensstarker mensch sein müssen, und als ein solcher fühlte er sich nicht. und ob es sich lohnte, das war auch nicht sicher; denn lohnen tat sich eine solche charakteränderung nur, wenn ihm danach mehr eingefallen wäre als zuvor, da er sich ausgeschlafen hatte. ausschlafen war für nachdenken und heraufholen von vergangenem aus der erinnerung zweifellos günstiger.

vormittags versuchte ich, ein paar textdateien zusammenzufügen, was mich grosso modo zwei stunden kostete. dabei funktionierte nur ein teil. seltsame, unverständliche meldungen vom rechner. zum verzweifeln. ich bin sehr ärgerlich. nichts, nichts geschafft. und dabei denkt man sich: setze ich mich zwei drei stunden hin oder stelle mich vors stehpult und schreibe. sit down and start up. von wegen! pustekuchen! am liebsten würde ich irgendetwas zerschlagen oder jemanden anschreien.

die kastanienmoniermotte hat wieder zugeschlagen: überall sind die blätter der herrlichen bäume braun und welk vor der zeit. ihr heroismus im tapferen weiterwachsen und erblühen jedes frühjahr macht ihre herrlichkeit erst so recht aus. man möchte helfen, aber man kann nicht. bedauernswerte bäume. (zum heroismus in unserer zeit, heroism in our time, vgl. viktor klemperers vorwort zur lti. notizbuch eines philologen …)

vor einem versicherungsbüro der kalauer: ihre hundertprozentige air-folgsgarantie. man seufzt und nimmt es hin wie man so vieles hinnehmen muss.

in der riemannstraße kam mir in höhe der kirche sankt petri eine korpulente frau entgegen, die ihren kopf leicht angewinkelt hatte und ihn in einem fort mit hoher frequenz, aber kleiner amplitude bewegte. – das alles gibt es also. man nimmt es wahr und notiert es, aber man notiert doch nur einen bruchteil. wieviel wird einem bewusst von dem, was man bei einer solchen begegnung empfindet. es ist nicht mitleid, es ist nicht achtung allein und nicht neid. sie meistern alle ihr leben, sie versuchen es jeden tag – und du? – aber auch das ist wohl nur ein fehlerhafter eindruck.

das taxieren von frauen nach aspekten körperlicher merkmale und reize muss man wohl unumwunden als sexismus bezeichnen. ich bekenne folglich: ja; ich bin ein sexist. trotzdem, man beobachtet und taxiert wider besseren wissens. das wird man nicht los. die vernunft hat keinen zugriff auf das reptilienhirn. aus krummem holz geschnitzt, es bleibet dabei. aber die hürde liegt anderswo: bei dieser beurteilung stehenzubleiben und laut darüber zu sprechen. guck mal, die hat aber … – es wäre heuchelei, solche gedanken, solche inneren monologe zu leugnen. — die kleine betrachtung zum tagesausklang, könnte man als überschrift wählen, oder: wie sich einer die welt zurechtreimt.

vor einiger zeit klingelte mich j. v. in der nürnberger straße an, während sie an mir vorüberfuhr. merkwürdig. ob ihr wohl irgendjemand glaubhaft versichert hat, ich sei gar kein neoliberales, rechtskonservatives schwein? — nur der wahre messias verleugnet sich. also gut: ich bin der messias. – seht ihr, er ist es …

abends geriet ich auf dem rückweg vom städtischen kaufhaus nach plagwitz in einen heftigen regen, der sich später zu einem handfesten gewitter auswuchs. wie schon häufiger beobachtet, wird man ab einem gewissen grad nicht mehr nasser, ja es war sogar angenehm, durch den regen zu fahren. wenn man einmal von der nässe absieht. es regnete so stark, dass ich nichts mehr recht erkennen konnte, der regen lief mir in die augen und lief mir in den mund; dabei bemerkte ich, wie süss und weich eigentlich regenwasser schmeckt.

günter grass widmete der fotografin maria rama, die nun die zentrale rolle im neuen buch zugewiesen bekommen hat, bereits ein gedicht, in dem es heißt: jetzt bin ich fünfundvierzig und staune noch immer. – das gedicht wächst am staunen entlang (kunze). – staunen ist der beginn der ethnografie.

hermann lenzens buch „freunde“ beendet, ein begnadeter erzähler, stimmungen nach art einer streichersonate kann er meisterlich hervorbringen; was erzählt wird, tritt fast in den hintergrund, wie er erzählt, ist völlig ausreichender grund, seine bücher zu lesen. – es will mir scheinen, als zöge mich jeder autor auf seine seite. davon kannst du lernen und dir das eine und andere abschauen. als ich vorhin dieses bedachte, fiel mir alfred döblin als gegenbeispiel ein, aber wenn ich es nochmals bedenke, trifft es nicht zu, selbst döblins „wallenstein“ und „berge, meere und giganten“ – sie haben ihren reiz und üben ihn auf mich aus. wo ist das eigene? und wenn ich ein eklektiker und epigone wäre? vermutlich könnte man auch damit leben und sein auskommen haben. vermutlich darf ich ohnehin auf nichts weiteres hoffen. – wohlan, wohlan.

gelegentlich erinnere ich mich, wenn ich mit dem rad an einer ampelkreuzung halten muss, an w. r.s wort über den autor, als ich ihr berichtete, ich hätte im zug hinauf ins erzgebirge links und rechts zum fenster hinausgesehen und fortlaufend notiert, was ich beobachtete – in der landschaft und in mir. die leute hätten bestimmt gedacht: aha, ein autor auf recherche! – während dieser gelegentlichen erinnerungen erscheint mir die bezeichnung autor am meisten auf mich zu passen; sie ist kühler, technischer, weniger romantisch aufgeladen und doch eigentümlich leuchtend. kein kerzenschimmer, mehr eine quecksilberdampflampe, xenonlicht, das glimmen radioaktiven gesteins. pechblende eben – diese richtung.

im bett begann ich noch, mir fielen schon die augen zu, ein kleines tagebuchbändchen von hanns cibulka zu lesen, das ich erst am samstag auf dem flohmarkt gekauft hatte. es roch stark nach bissigem rauch, als hätte es in einer räucherei gehangen. ein kleines bändchen, knapp 130 seiten. während ich las, musste ich mich in der geschwindigkeit zügeln. man feilt an jedem wort und denkt sich etwas an der komposition, ist vielleicht stolz auf diese oder jene gestaltungsidee in der komposition eines satzes oder des gesamten texts – und ein schnöder leser, dem die augen fast zufallen, geht darüber hinweg. so ein buch ist immer ein stück seelengärtlein des verfassers. und wer sich sorgfalt und rücksicht auf den eigenen seelengarten wünscht, muss sie wohl auch in fremden pflegen. also langsam lesen. – er schreibt über die differenz in der wahrnehmung zwischen seiner ersten homerlektüre während seiner stationierung als fernmeldesoldat auf sizilien und seiner zweiten in der gegenwart der siebziger jahre. – wie wenig erfasse ich von den texten, die ich lese, mir kommt es immer so vor, als ginge ich darüber hinweg wie mit einem hölzernen hakenpflug, ritzte etwas den boden, aber die tiefe, die tiefe. – ich dachte daran, wie dieses büchlein dereinst in der bibliothek stehen und ich dort arbeiten würde. lesen, denken, schreiben. beruhigt und voll tatendrang schlief ich ein.

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