in der nikolaikirche hielt frank-walther steinmeier die „rede zur demokratie“; sicherheitspersonal, presseleute, gaffer – und ich schob mein rad durch die menge. am seiteneingang war friedrich schorlemmer in ein gespräch vertieft, vermutlich frieden, freiheit, freude schöner götterfunke … — mich widert dieses demokratie-spielen an: einer hält eine rede und andere fühlen sich verpflichtet, sie anzuhören. reden lauschen ist aber kein bürgerschaftlicher akt, applaudieren macht noch niemandem zum citoyen.

man kann nicht haftbar gemacht werden für seine assoziationen, der wille steuert nicht das feuern der neuronen, allenfalls mag man aus den assoziationen rückschlüsse ziehen auf den charakter des menschen, aber auch das bleibt fraglich, denn man spricht und handelt nicht nach dem muster seiner assoziationen. trotzdem zensiert man seine gedanken, weil man ja ein guter mensch sein möchte und ein guter mensch, so bekommt man’s beigebracht, hat keine schlimmen, bösen, obszönen usw. gedanken. die sonate vom guten menschen … – mir kam ein junger mann auf der treppe entgegen und ich dachte: wie ein gorilla; fehlte nur noch, dass er sich auf die brust trommelte und dazu brüllte: ich tarzan, … aber unverzüglich schaltete sich der verinnerlichte zensor ein und wies mich zurecht, das dürfe ich nicht denken – und schon gar nicht notieren. die gedankenpolizei im kopf, erziehen und strafen im öffentlichen diskurs, schlimmer noch: im kopf. ob das hilfreich ist?

ich beobachtete dieser tage einige junge frauen, die vermutlich gerade immatrikuliert worden sind und noch etwas unorientiert und allenthalben verloren herumlaufen. mich berührt ihre einsamkeit, vielleicht projiziere ich auch nur meine eigenen empfindungen auf attraktive frauen und unterstelle ihnen einsamkeit, die sie gar nicht haben. mir kommt jedenfalls der gedanke, ich könnte ihre einsamkeit ausnutzen, um meine eigene zu dämpfen und zu bekämpfen. aber erstens wäre das unauffrichtig, selbstsüchtig, eigennützig, gemein, … und zweitens hülfe es nicht. nichts hilft, ein rest einsamkeit bleibt immer, die letzte distanz kann nicht überwunden werden, die annäherung eines menschen an einen andern ist bestenfalls wie der verlauf eines graphen, der gegen eine bestimmte zahl strebt, bestenfalls.

w. wirft der jugend, den studenten, der gesellschaft einen werteverfall vor, redet kulturpessimistisch dem untergang das wort („die epistel steht bei oswald spengler im dritten kapitel …“). – auf dem weg durch die stadt konnte ich nur denken: werteverfall, werteverfall, werteverfall – in einem fort. als ob das die erklärung wäre. freilich: darin kann man sich’s wohlig einrichten. aber man hilft keinem einzigen menschen und auch nicht der gesellschaft (was immer das sein mag, gemeinschaft der menschen … i don’t know, i just wonder). lasst uns niedersitzen zu trauermären von der könige tod, wie? — nach meinem dafürhalten hat kirche eine ganz andere aufgabe. sie muss auf den einzelnen zugehen und – achtung: phrase! – ihn dort abholen, wo er ist; ihm egoismus, mangelnde werte, … vorzuwerfen und ihn gleichsam in sturm und regen, in furcht und hoffnung draußen vor der tür stehen zu lassen, ist mit der bergpredigt nicht recht zu vereinbaren. die menschen beschimpfen und ihnen vorwerfen, sie träten nicht näher. die dynamik des christentums entsprang dem einsatz für die armen und geschundenen, es war in der antike eine sklavenreligion, gegen die sich irgendwann auch der mächtige römische staat nicht mehr stellen konnte. dem rad in die speichen greifen, sagt bonhoeffer. wo sich kirche nicht der sorgen und nöte der menschen annimmt, sondern in selbstmitleid verfällt, auch wenn sie es als kämpferisches bekenntnis ausgibt, ist sie keine kirche mehr. aber mit der unmittelbaren bezugnahme auf die schrift statt auf die tradition und der damit verbundenen instiutionskritik ist dem christentum eine permanente selbstkontroll- und erneuerungsfunktion eingeschrieben, so dass man um die frohe botschaft nicht in sorge sein muss – trotz des werteverfalls, werteverfalls, werteverfalls … das omega, das für das ende steht, klingt mit einem a(lpha) aus, es ist nie zu spät für das apfelbäumchen.

wo kirche sich alleinseligmachend darstellt, ist sie überheblich, wo sie überheblich ist, sieht sie nicht den menschen in seinem kummer und schmerz, wo sie den menschen nicht sieht, ist sie keine kirche. punktum.

die kunst liegt nicht darin, ein-zwei mal bis drei uhr nachts zu arbeiten. die kunst liegt darin, kontinuierlich zehn, zwölf, vierzehn, sechszehn stunden zu arbeiten (freilich: der student verhält sich zum arbeiten wie der blinde zur farbe … ), sich auf das tagesgeschäft zu konzentrieren und ergebnisse zu produzieren, soll heißen lesen, denken und (!) schreiben. wenn einem doch nur sätze gelängen, die sich ergänzen und die es lohnen, auch ein zweites und drittes mal gelesen zu werden. statt dessen müht man sich und es kommt doch nur geschwätz heraus, phrasen und trash. das ist das problem. das glück wäre, jeden tag den stapel etwas zu vergrößern und von zeit zu zeit einen stapel abzuschließen. aber nein, man springt hierhin und dahin, scheint beschäftigt, lenkt sich aber in wahrheit nur ab, lenkt sich ab von harten einsichten. – das kleine glück sind solche notate, die zwar auch nur phrasentrashgeschwätz sind, aber die erst einmal stehen. am schlimmsten sind die tage, an denen man von einem ort zum andern hetzt, aber nichts vorweisen kann am abend. — lenz: nur die arbeit zählte, ohne sie war er nichtswürdig, ein herumtreiber.

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