es ist unglaublich schwer, erfordert starken willen und starkes selbstvertrauen, in einer polemisch aufgeladenen menge selber unpolemisch zu bleiben. wie soll man auf völlig unsachliche, verhöhnende, verletzende zwischenrufe anders reagieren. wer ein so starkes fell hat, ist unempfindlich gegen jede kritik – und darum soll es ja gerade nicht zu tun sein.

hüte dich, dass du dich nicht setzest zu einem, der über jemanden schlecht redet, und antworte gar nicht auf seine rede! denn der mensch, der seinen nächsten verleumdet, er ist wie ein mann, dessen schwert gezückt ist, wobei er gegen das recht gottes und sein gesetz kämpft, denn er hat das verleumdet, was gott mit seinen händen erschaffen hat. wahrlich, kennte der mensch die güter, die vor ihm verborgen sind, er brächte nicht zwei worte heraus bis zum abend. wenn wir einen sehen, der einem menschen übel nachredet, so lasst uns ihn fliehen wie jemand, der auf der flucht vor einer schlange ist. (aus einer abschrift auf einer tonscherbe, dem ägyptischen abt theodoros, 4. jhd. n. chr., zugeschrieben.) – dem kann man nichts hinzufügen, und doch ist das herz noch so voll.

es ist kein dialog, wenn man dem partner mit überheblichkeit begegnet. das ist etwa dann der fall, wenn man ihm aufgrund seines alters abspricht, eine eigene meinung zu besitzen, weil er noch nicht genügend erfahrung und lebenseinsicht gewonnen habe, um eine eigene meinung entwickeln zu können. der vorwurf zu jung zu sein („sie waren nicht dabei, sie können daher nicht urteilen.“) ist genausowenig ein argument wie der gegenteilige vorwurf („sie haben doch keine ahnung, wie es heute wirklich aussieht.“ oder: „ach, großvater, hör doch auf mit den alten geschichten, die interessieren niemanden.“). ich stelle nicht in abrede, dass man mit anfang zwanzig eine andere einstellung zur welt und nicht zuletzt zu sich selbst hat, als mit anfang dreißig, vierzig, fünfzig … aber eine alte auffassung hält den menschen von zwanzig jahren für reif genug, ihn herr seiner entscheidungen sein zu lassen. wer das in abrede stellt, muss sich fragen lassen, warum so junge, unerfahrene menschen dann eigentlich noch zu wählen berechtigt sind. ein alters-, bildungs- und wertezensus ist da nicht mehr weit und es lassen sich sehr leicht gerontokratische dystopien entwerfen.

wenn in leipzig an einem herausgehobenen ort, etwa auf dem wilhelm-leuschner-platz, wo ehedem die markthallen standen, eine moschee in herausgehobener architektur gebaut werden sollte, sind doch wohl eine ganze menge leute, die heute für die freiheit des glaubens und seiner präsenz durch architektur im öffentlichen raum schreien, auf den barrikaden mit dem molotowcocktail in der hand.

und immer so weiter, man schüttelt den kopf und staunt und könnte so viele worte über die arroganz und anmaßung, über dieses philistertum, über diese verlogenheit verlieren. dann treten noch altachtundsechziger auf und behaupten mit ihren vulgärdemokratischen vorstellungen die deutungshoheit. nicht nur ihre väter und großväter habe keine ahnung, auch die kinder und enkel, die einen verdorben durch den nationalsozialismus, die anderen durch die wohlstandsgesellschaft. es ist ungeheuerlich. da wird über werte schwadroniert, aber respekt für ämter und eine achtung vor institutionen – pustekuchen. allenfalls, wo es die eigenen institutionen und ämter sind. ungeheuerlich, diese autoritäre auffassung von antiautoritärem verhalten. schuhe ausziehen und werfen – aber dann heißt’s wieder, man gebrauche gewalt und beweise damit die unterlegenheit der eigenen position, den eigenen irrtum. man könnte aus wut gegen die wand laufen und ungeheuerlich rufen, immer wieder ungeheuerlich. man möchte schreien ergriffen von einem zorn, der sich nicht mehr in sprache fassen lässt.

apropos moscheen: hans-ulrich wehler gilt für gewöhnlich als ein lauterer, vernünftiger historiker. was er etwa zum thema nation und nationalismus schreibt, muss erst einmal verinnerlicht werden. damit wäre schon eine ganze menge gewonnen. aber sein artikel zum beitritt der türkei zur europäischen union verursacht nur kopfschütteln. man kann das pamphlet auch streichen und durch den satz ergänzen: ich habe angst, von 100 millionen türken majorisiert zu werden. auch da ließe sich ergänzen: von den 100 millionen ungebildeten majorisiert zu werden. da kann man sich nämlich die ganze reihe von konstruierten und herbeigezogenen argumenten sparen. ich muss bekennen: ja, auch ich hege unbehagen angesichts dieser beiden entwicklungen. aber ich sehe keine alternative. es muss darum gehen, den annäherungskurs zu steuern. – grundsätzlich: (1) ich halte einen beitritt der türkei mit ihren gegenwärtigen gesellschaftlichen bedingungen in den nächsten 25 jahren für illusorisch bzw. hochgefährlich. (2) wenn man sich die gesellschaft mancher jüngst beigetretener mitgliedsländer betrachtet, kann einem bange werden. (3) der verlust ganzer gesellschaftlicher gruppen hierzulande stimmt nicht weniger bedenklich. (4) aufklärung von andern fordern heißt zunächst die aufklärung bei sich selber, im eigenen land und im eigenen denken befördern. oder mit lukas 6,41 gesagt: was siehst du aber den splitter in deines bruders auge, und den balken in deinem eigenen auge nimmst du nicht wahr. (5) die gefahr eines „imperial overstretch“ der europäischen union ist seit ihrer enormen osterweiterung ständig gegeben. (6) gleichwohl ist es notwendig, sowohl die staaten des balkan als auch die ukraine und weißrussland, norwegen und die schweiz früher oder später in die union aufzunehmen. die beiden osteuroäischen ländern benötigen ohne zweifel einen langjährigen annäherungsprozess. die jüngsten entwicklungen in bulgarien machen offenkundig, dass die letzte erweiterung übers knie gebrochen wurde. (7) eine vertiefung der integration muss der erweiterung zwingend vorausgehen. (8) ein beitritt der türkei ist auf lange sicht (!) unumgänglich. 2014 wird er nicht erfolgen. die integration dieses staates und seiner gesellschaft stellt gewiss eine große herausforderung dar und ist mit hohen kosten verbunden. allein, die kosten wären ungleich höher, würde man die türkei nicht aufnehmen. (9) neben der vollmitgliedschaft müssen weitere formen der vertieften partnerschaft entwickelt werden, etwa für die staaten nordafrikas. das verhältnis zu russland wird immer ein besonderes sein (müssen). inwiefern die staaten des kaukassus, allen voran georgien und armenien – zugegeben: die christenländer; hat aserbaidschan interesse an einer mitgliedschaft bekundet? – aufgenommen werden sollten, ist gegenwärtig noch nicht abschließend zu bewerten. (10) es handelt sich weniger um eine frage der definition europas, denn europa ist immer ein konstrukt, es ist bestenfalls ein asiatischer subkontinent, ein zerböckeln und zerfasern asiens zum atlantik hin. es ist vielmehr eine frage des „imperial overstretch“, d. h. es kommt auf das verhältnis von integrationskosten und –nutzen an. im falle der türkei halte ich den nutzen für größer als die kosten, besonders im hinblick auf die alternativen (die keine sind); im falle des kaukassus wird man die weitere entwicklung abwarten müssen, innerhalb und außerhalb der union. die weiteren nachbarn russland, die maghreb-staaten und die staaten der levante werden wohl keine vollmitglieder werden können. aber: das ist keine frage der identität, es ist eine frage der funktionaliät. prinzipiell wäre das modell europäische union auf die ganze welt ausdehnbar, aber es lässt sich nur schwer vorstellen, wie das praktisch funktionieren soll; wohlgemerkt: es ist hier die rede von demokratien nach den kopenhagener kriterien: japan könnte mitglied werden, aber es ließe sich nicht praktizieren

auf dem weg aus der innenstadt zum institut sang ich so vor mich hin: ein feste burg ist unser gott.

als ich aus dem institutsgebäude trat, es war so gegen halb zwei uhr in der nacht, fand ich mein fahrrad auf lenker und sattel gestellt vor – ein anschlag?

Dieser Beitrag wurde unter europa, leipzig veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert