gespräch zwischen dem privatdozenten dr. theol. dr. rer. oec. dr. phil. habil. jürgen schubert und dem studenten der geschichtswissenschaft und germanistik tomas mueller. schubert, leiter des kommunalarchivs der universitätsstadt l., schreibt seit jahren an einer geschichte dieser stadt im 17. jahrhundert (1); rezensenten von teilveröffentlichungen und aufsätzen schuberts zu seinem leibthema loben dabei unisono die bestechende multiperspektivität des verfassers, die gemeinhin erklärt wird mit seiner “intimen kenntnis der quellenbestände”, einem ausgeprägten fleiß (”kärrnerarbeit”) und einer außergewöhnlichen historischen analysefähigkeit (”stupende gelehrsamkeit”). mueller hat im kreis seiner kommilitoninnen mehrfach wissen lassen, dass er gerne “auch so was wie der schubert” machen würde, allerdings für die zu zeiten luthers und karls v. blühende bergbauregion im süden des landes; da er jedoch als studentische hilfskraft am lehrstuhl für mittelalterliche geschichte angestellt ist, dessen inhaber johannes lehmann-tscherny sich auf siedlungskunde spezialisiert hat, wird von dem studenten mueller eine studie erwartet, die sich in die publikationsliste seines chefs einfügt und zur fußnotenbeschaffung dienen kann. am rande einer promotionsfeier treffen beide aufeinander, kommen ins gespräch und schubert lädt mueller kurzerhand ein, die unterhaltung bei ihm zuhause fortzusetzen. schubert verteilt auf annähernd zwei metern körpergröße gut zweieinhalb zentner, ist anfang 50; großer kopf, kaum haare, die sehr kurz geschnitten sind (”der könnte auch offizier einer preußischen kompanie aus hinterpommern sein, so 1735″, falkenbach (2) über schubert); er bewohnt eine graugewordene gründerzeitvilla, sein arbeitszimmer dehnt sich im gesamten dachgeschoss aus: fluchten von regalen, mit büchern und papieren vollgestopft, etliche tische voller papierstapel, manche sind umgefallen und haben sich auf dem boden schubweise ausgebreitet, eine batterie von zettelkästen, auf einem der tische ein weißes marken-notebook, angesichts dessen kleiner tastatur man sich fragt, wie schubert darauf tippen kann. mueller braucht nicht weiter vorgestellt zu werden (siehe oben). beide sitzen neben einem samowar und trinken tee aus winzigen, mit blauem chinesischen dekor versehenen schalen, vermutlich tatsächlich späte ming-zeit; in schuberts pranken wirkt sie etwas verloren.
– ich heize hier nicht, von unten kommt ja genügend wärme und mehr als 16 grad brauche ich nicht, falls ihnen kühl ist. ach ja, …
schubert springt auf, geht zu einem kleinen schränkchen und öffnet es.
– das ist das ganze geheimnis, wenn man so will. ein setzkasten verschiedener optiken.
– bitte?
– ja, verblüffend einfach, nicht wahr? hat so ein bißchen etwas à la wilhelm hauff, kaltes herz, schatzhauser. nur tausche ich die augen – sie glauben gar nicht, wie offensichtlich damit alles wird. sie schauen sich etwa die eingabe der fleischerzunft an den rat an, 12. april 1609, in der sie sich beschwert, die universität bezöge ihr fleisch von außerhalb und ihnen springt förmlich in die augen, welche passage wichtig ist, welche namen, ich staune noch heute …
– verstehe ich das jetzt richtig: sie sitzen im archiv und – wechseln die augen? fällt das niemandem auf?
– so einfach dürfen sie sich das natürlich nicht vorstellen, junger freund, ich gehe immer mit einem paar morgens aus dem haus, auf dem weg muss man sich gelegentlich etwas konzentrieren – deshalb fahre ich auch seit jahren nicht mehr mit dem rad, einen führerschein habe ich gar nicht erst, da nehme ich den zug, auch wenn man sich dabei ständig ärgert … jedenfalls schaue ich mir an einem tag den quellenbestand, den ich gerade in benutzung habe, mit der einen optik an und am nächsten tag mit einer andern. man muss nur schauen und notieren. der rest ist einfach: sie müssen lediglich noch einen text schreiben, aber bei so vielen eindrücken, die sie gewonnen haben, drängen sich die sätze gewissermaßen auf.
– und wo haben sie ihren, wie nennen sie das überhaupt? ihren augensatz? wo haben sie den denn her? – mir wird schon ganz schwindelig …
– ach, wissen sie, das war so ein glücks- und zufallsfund. ich fand meinen auf dem flohmarkt, ich hatte der ruhe wegen den bitten meiner frau nachgegeben und sie begleitet, das muss so anfang, mitte der 80er jahre gewesen sein. war so eine kiste und ich dachte, schauste mal rein. ich nahm ein auge heraus und klemmte mir’s wie ein monokel ins gesicht. ich hatte mir einen aufsatz über den ochsenhandel im späten 16. jahrhundert mitgenommen, falls meine frau wieder länger brauchte, manchmal trifft das klischee eben doch zu …, den blätterte ich durch und besah ihn mir mit meinem … dritten auge. verblüffend, wie die wichtigen passagen, literatur- und quellenhinweise hervorstachen, namen von personen leuchteten auf wie ein erstes kieselsteinchen zu einer neuen spur. fast so, als wären sie markiert. ich probierte noch eine weile und als der händler nicht viel für die kiste haben wollte, sah nicht einmal hinein, nahm ich sie mit. genau: das war im frühling 1987, da schrieb ich schon seit jahren an meiner diss und kam nicht voran, wollte wohl auch nicht vorankommen – ein halbes jahr später hatte ich ein zweibändiges manuskript fertig, das die fakultät annehmen musste, auch wenn es, nun ja: nicht ganz auf der parteilinie lag. – kurzum: sie müssen eben stöbern.
– und das ist alles, das ganze geheimnis?
– der rest ist fleiß und ausdauer, aber mit diesem … hilfsmittel sind sie sich ja sicher, die quellen sind auf ihrer seite. da kann kommen, wer will und versuchen, ihnen am zeug zu flicken, nichts da. die ganzen theoretiker, denen es im archiv zu staubig ist, und die nun mit foucault und wem auch immer alten wein in neue schläuche gießen wollen, die können sie damit alle getrost in der pfeife rauchen. wenn sie also wollen: ja, das ist das ganze geheimnis.
schubert zwinkert oder: zuckt mit einem auge, und verschließt das schränkchen wieder.
___
(1) verlagsankündigung für den ersten band im kommenden jahr: “zwischen reformation und aufklärung. die stadt l. im dreißigjährigen krieg. bd. 1: calvinistensturm, jesuitenhandel und lutherische frömmigkeit”.
(2) matthias falkenbach, militärhistoriker, seit 2007 professor für geschichte der frühen neuzeit universität potsdam; studium der geschichte und philosphie an den universitäten cottbus, l., new york, 1995 phd. university of new york (”prussia in america. studies in united states early military, 1776-1814″), habilitation 2004 universität l. (”das landesdefensionswesen in den protestantischen ländern des alten reiches bis zum westfälischen frieden”).