unverhoffter besuch

als christoph kolumbus am 12. oktober 1492 auf der bahamasinsel guahanahaní offiziell laut seinem log- und bordbuch landete, die er jesus christus zum dank für die überstandene fahrt und zu ehren el salvador – erlöserinsel – nannte, erlöst von der langen fahrt und erlöst, wie man meinen könnte, von der ungewissheit, ob je land zu erreichen war auf dieser seereise, verschwieg er seiner mannschaft, den mitgereisten vertretern der kronen aragons und kastilliens und auch den kapitänen pinzon, die die begleitschiffe nina und pinta unter ihrem kommando hatten, dass er bereits in der morgendämmerung auf der insel gewesen war. man hatte ihm nicht geglaubt, dass es im westen land zu finden gäbe, und er hatte seinerseits immer wieder die ängste der seemänner vor meeresungeheuern, sirenen und dem magnetberg zu zerstreuen versucht. wie sollten sie ihm die geschichte von der dunkelhäutigen, aber weißgewandeten, irgendwie leuchtenden frau glauben, die plötzlich in seiner kajüte gestanden hatte und ihn im vertrauten genueser dialekt angeredet hatte. sie streckte ihm ihre hand entgegen und beschwichtigte ihn, er solle sich nicht fürchten. er nahm ihre hand und folgte ihr an deck, alles schlief, drückende hitze, ein lufthauch. an der reeling packte sie ihn plötzlich, mit einer leichtigkeit, als sei er ein kind, und, wer sollte das glauben und nicht sagen: hexe!, flog mit ihm davon. immer weiter und höher stiegen sie, durch die wolken bis der aufstieg jä abriss und er die schwere seines körpers nicht mehr spürte. seine begleiterin beruhigte ihn und zeigte nach unten. dort lag die erde, eine gewaltige kugel in blau, weiß und grün. er hörte keinen ton, sie schwebten alle drei in der stille. er erkannte spanien und das mittelmeer, frankreich und england, die afrikanische küste und auf der andern seite, fast noch in dunkel gehüllt, eine vielzahl von inseln und eine lange küstenlinie. kathai, zipangu, rief er aus, aber kein laut entsprang seiner kehle. die frau schüttelte den kopf, nahm wieder seine hand und sie flogen nach osten, übers mittelmeer und das heilige land nach persien, das meer entlang auf ein land zu, das wie ein höcker in einen weiten ozean ragte. sie sah ihn an und er wusste: indien. weiter flogen sie über eine großen archipelagus hinweg auf ein land zu, um das sich in einem kühnen bogen ein weiteres meer schloss, sie ansehen und wissen: kathai. weiter im osten dämmerte es, man erkannte mit mühe noch eine küstelinie, er musste sie nicht mehr ansehen, er ahnte es selber: zipangu. sie nickte, nahm in wieder bei der hand und flog mit ihm durch die nacht, allmählich spürte er wieder die schwere seines körpers und ganz im osten begann ein mattes leuchten, der nächste morgen. sie flogen über einige inseln hinweg, streiften das laubwerk an einem strand und landeten kurz darauf wieder auf der santa maria, nach wie vor schlief alles, nichts regte sich, allenfalls ein wenig die segel und das schiff trieb langsam auf die insel zu. er fragte sie, was das für eine insel sei, zu welchem königreich sie gehöre und was sich in der nacht verbergen würde, sie zuckte mit den schultern, gab ihm einen sanften kuss auf die wange und flüsterte ihm dabei ins ohr, seine entdeckung liege da in der morgendämmerung. er riss die augen auf, hörte sein herz schlagen. die nacht ist vorbei, der tag ist erwacht, wenn die geister singen könnten, sie sängen diesen choral. sie löste sich von ihm und entschlüpfte durch die tür, die sie knarrend schloss. kolumbus stand einen augenblick noch in der kajüte. eine insel lag vor dem schiff, bald würden sie sie erreichen, viele inseln und ein großes land, aber weder zipangu, noch kathai oder indien. wer sollte ihm das glauben, die weißgewandete frau und das unentdeckte land? er würde allen weiterhin sagen, dies seien zipangu, kathai und indien. käme zeit, käme rat, in jedem fall hatte er recht behalten, wenn auch anders als gedacht, aber so ging es ja häufig. wie in den orakelsprüchen aus delphi. hinter einer hölzernen mauer werdet ihr schutz finden. er wendete sich um und warf sich auf sein lager, nach kurzer zeit fielen ihm die augen zu, nur für einen moment. kolumbus schreckt wieder hoch und fährt sich mit der hand übers gesicht. aber er fragt sich nicht: war das ein traum, sondern er fragt sich: ist sie dir nicht schon einmal begegnet?

***

– gesetzt, es habe bis ins fünfzehnte jahrhundert das delphische orakel gegeben und ferner, der genueser seemann christoph habe es aufgesucht und gefragt. was hätte es wohl geantwortet?

– eine kontrafaktische frage.

– gewiss, aber ihre ganze geschichte ist ja contra facta. was hätte ihm die pythia geantwortet?

– unverständliches. die apollonpriester übersetzten die dunklen worte der gottheit.

– selbstverständlich. und wie hätte die übersetzung der priester gelautet?

– sie geben keine ruhe, was interessiert sie denn an dieser völlig abseitigen frage?

– sie haben doch diese geschichte erzählt, ich musste zuhören, da werde ich wohl ein wenig weiterspinnen dürfen.

– vielleicht: im abend wirst du finden, was du im morgen vergeblich suchst.

– und das soll heißen?

– das lag immer in der deutung des fragenden. für die einen vielleicht: gods own country. und ich sah einen neuen himmel und eine neue erde …

– die apokalypse des johannes. die amerikanische lesart, die evangelikale – und wie lautete die ihre?

– erst zwingen sie mich, eine pythiaantwort zu imaginieren und dann soll ich auch noch eine deutung dazu finden!

– ich möchte sie nur daran erinnern: die priesterauslegung der pythiaantwort …

– jaja, schon gut. sie sind ein erzgescheiter bursche, brief und siegel. – es gibt keine prophezeiungen, nicht einmal prognosen. der gang der geschichte, um es einmal so zu formulieren, schlägt immer wieder unerwartet haken. 1492: das katholische königspaar hatte granada erobert, aber weiter im osten saßen die türken schon seit einigen jahrzehnten in konstantinopel und auf dem balkan, sie klopften bereits an die tür des sacrum romanum imperium, das sich als zweiter erbe roms verstand. wer wollte da nicht an den weltuntergang glauben und an die apokalypse des johannes, die türken nicht als die völker gog und magog betrachten. aber was geschieht: ein neuer kontinent im fernen westen wird jenseits des meeres enthüllt.

– eine sehr westliche interpretation, meinen sie nicht? die erfolgsgeschichte der modernisierung: kolumbus, calvin, kopernikus …

– ich lebe ja im westen und sie auch, was wollen sie? außerdem verstehen sie mich nicht richtig. man soll den tag nicht vor dem abend loben, aber eben auch nicht verdammen.

– sie fordern uns also mit nietzsche gewissermaßen auf: in die schiffe, ihr philosphen. es gibt noch eine andre welt und mehr als eine zu entdecken.

der gesprächspartner (1) hatte sich eine zigarre, vermutlich kubanisch, angezündet und verschwand allmählich in ihrem dunst, ein nicken konnte man noch erahnen.

(1) das gespräch fand in einem straßencafé in der innenstadt von l. statt. der kontakt war über den verlag vermittelt worden, die wirkliche identität des gesprächspartners war dem journalisten rust nicht bekannt. er hatte aber indizien dafür, dass es sich um michael querner handelte, den professor für iberoamerikanische geschichte an der universität xanten, der in l. promoviert wurde (noch in den letzten jahren der ddr) und sich in den frühen neunziger jahren dort auch habilitiert hatte. dieser habe damals schon, so der inzwischen emeritierte l.er wissenschaftshistoriker brun gundelfinger zu rust am rande einer akademischen festveranstaltung, seine wissenschaftlichen texte durch belletristische ergänzt und unter pseudonymen veröffentlicht, erst aus furcht vor der zensur der parteileitung, dann aus furcht vor der häme der westkollegen. – rust notierte sich ferner nach dem gespräch mit gundelfinger: „vgl. dazu david lewis/dennis rodgers: the fiction of development. literary representation as a source of authoritative knowledge, in: journal of developmental studies 2 (2008).“ darauf war er unlängst im feuilleton seiner tageszeitung aufmerksam gemacht worden (thomas steinfeld: vergesst die experten. wissen romane mehr über die welt als die wissenschaft?, in: süddeutsche zeitung vom 13. november 2008, s. 11).

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