(…) leben in der freiwilligen knechtschaft eigener ideen erfordert einen berg humus: zettel und kladden mit notizen, skizzen, anfängen; schachteln, mappen, schubladen für fotografien, briefe, landkarten, kalender (…)

(anne dorn: mein humus ist weg. unter der haut bleierner stille und schwere: die schriftstellerin anne dorn über den schock nach dem einsturz und den verlust ihres nachlasses, in: sz vom 27.03.09, s. 14.)

abends telefonierte ich mit s. und wir kamen auf die pechblende zu sprechen. der unterschied zwischen einer zurückhaltung im leben und einem starken aussetzen in der sprache. die niederschrift und veröffentlichung von träumen. – peter sloterdijk stellt seiner frankfurter poetik-vorlesung „zur welt kommen – zur sprache kommen“ ein wort von paul celan aus dem meridian voran: die kunst erweitern? / nein. sondern geh mit der kunst in deine allereigenste enge. und setze dich frei. er beginnt:

„die poesie“, hat der dichter paul celan gesagt, „die poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus.“ (…) ich kenne keinen anderen satz, der die angelegenheit der literatur so richtig und so anspruchsvoll beim namen nennt. richtig ist dieser satz vor allem, weil er die sprache der poesie an eine geste knüpft, die sich hervorwagt. (…) das sichaussetzen, von dem die rede ist, hat nicht zufällig kein grammatisches objekt bei sich; wenn poesie sich aussetzt, so nicht in erster linie dem urteil einer öffentlichkeit, dem lob und der blamage durch zeitgenossen, der analyse und dem mißverständnis durch die nachwelt. selbstverständlich gehören diese elemente zu den bedingungen der literatur, und ein text ohne aussetzung an den leser wäre so verloren wie der säugling moses in seinem schilfkorb ohne eine tochter des pharao, die das ausgesetzte wesen in ihre obhut nimmt. aber das sichaussetzen der poesie, von dem celan spricht, geht kraft seiner absoluten natur über die kommunikation hinaus, es erschöpft sich nicht im spiel von senden und empfangen. die poesie setzt sich aus, weil sie nicht weniger ist als eine analogie der existenz – ein objektloses, offenes wagnis. das wort existieren, mit dem man in unserem jahrhundert die ontologische bedingung des menschen charakterisiert hat, enthält für den, der in die bedeutungsquelle des ausdrucks hineinhorcht, ein präzises echo auf das poetische sichaussetzen celans. wenn poesie sich aussetzt, und wenn existieren „sich hinaushalten“ in die weltnacht bedeutet, so sind existenz und poesie in ihren grundbewegungen miteinander solidarisch. sichaussetzen und sichhinaushalten sind konstitutive bewegungen des menschen. nirgendwo sonst, wenn nicht in ihnen, vollziehen sich gesten der „eigentlich metaphysischen tätigkeit“. sie sind die auftrittsgesten des menschen als dem poetischen tier. durch sie gewinnt das lebewesen, das zum untier zu werden droht, den leichtsinn, kein tier zu sein. (…)

wohlgemerkt: poesie und existenz entsprechen einander in ihrem grundimpuls. vor allem aber: poesie als mittel zur bewahrung und stärkung von zivilität. welches argument für die notwendigkeit der poesie wäre stärker? und wo wäre es treffender formuliert: durch die poesie gewinnt das lebewesen, das zum untier zu werden droht, den leichtsinn, kein tier zu sein. – warum ich das alles notiere? keineswegs um bildung zur schau zu stellen, sondern um das entzücken nachvollziehbar zu machen, das ich empfand, als ich diese worte zum ersten mal las – und im januar diesen jahres wieder empfand, als ich den text während einer zugfahrt nach berlin neuerlich las: mich beschleicht in solchen situationen, in denen mich ein text so sehr überwältigt, immer zunächst leise und kaum merklich ein aufjauchzen, das aber laut und heftig wird, sobald es ganz da ist. das sind worte, texte, die mir eine ungeheure innere unruhe verschaffen, weil sie an so vieles stoßen, das mich bewegt, so viel resonanz in das innere und innerste hinein zu erzeugen imstande sind. – dabei wachsen dem schüchternen menschen, indem er sich durch worte, texte, durch poesie aussetzt, kräfte zu, mit denen er in die lage versetzt wird, sich weiterhin hinauszuhalten in die weltnacht, die finster, kalt, rücksichtslos, uninteressiert, gleichgültig ist – und voller kontigenz. darin liegt die dialektische erfahrung, dass sich dieser am besten wappnet gegen die anfechtungen des lebens und der welt, der sich offenbart, jener aber verwundbar ist, der ein geheimnis trägt. da wir freilich alle etliche geheimnisse tragen, denn wer kennt sich schon, sind wir verletzlich, sterblich, menschen. das nackte hebräerkind im weidenkorb, der an nilkrokodilkolonien vorbeitreibt, bleibt unverwundet; der recke siegfried, der im drachenblut badete, aber ein lindenblatt machte den panzer unvollkommen, wird durch den lanzenstich hagens getötet.

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