auf dem weg zurück nach leipzig erinnerte ich mich an das gespräch mit t. über erhart kästner. kann man seine reisebücher noch lesen? dichtung, wird mir klar, erscheint mir nur dann gerechtfertigt, wenn sie mittel zum leben zur verfügung stellt, und das heißt immer weiter-leben und über-leben. dabei ist es ganz unerheblich, ob es sich um gedichte, erzählungen oder sonst irgendwelche texte handelt, solang sie nur und sei es einen einzelnen davon abhalten, den bettel hinzuwerfen. warum macht man weiter, warum lebt man weiter – obwohl es keinen grund gibt? wie kann man pläne in diese welt werfen, die immer davon ausgehen, es bleibe so, wie es ist, werde allenfalls immer ein wenig moderner, wo doch am horinzont schon die gewitterwolken aufziehen und der donner grollt. – warum soll ich dies schreiben? das liest niemand („so etwas kann man heute doch nicht mehr lesen.„) „ach gib’s doch auf!„, rät der schwager dem literarischen alter ego von hermann lenz. hans erich nossack ermutigt sich mit der hoffnung zum schreiben, sofern in fünfzig oder hundert jahren einer durch seine notate zum weiterleben ermuntert werde …

während ich am annaberger krankenhaus vorüberfahre, erinnere ich mich an mein vorhaben, mit dem ich die tätigkeit dort begann (…): ich wollte ein besonderes tagebuch führen, indem ich meine beobachtungen aufzeichnete über das eindringen eines neuen elements (nämlich mir selber) in ein funktionierendes soziales system (die station, der ich zugeteilt wurde), dessen einzelelemente genau aufeinander abgestimmt sind, aber durch jenes neu hinzutretende gezwungen werden, ihre beziehungen zueinander neu zu ordnen, zumindest zu überprüfen und anzupassen. für ein solches unterfangen fehlten mir freilich zum einen die soziologischen kenntnisse, zum andern braucht es für eine solche selbst-beobachtung als fremd-beobachtung eine (vermutlich zuletzt un-mögliche, weil widersprüchliche) mischung aus hoher sensibilität und zugleich hoher unempfindlichkeit. es verwundert folglich wenig, wenn ich die aufzeichnungen bald aufgab. trotzdem wird daran mein interesse an soziologischen themenfeldern deutlich. selbst einen klassenverband nahm ich schon recht früh abstrakt als ein soziales gefüge wahr, dessen beziehungsgeflecht sich ändert, sobald sich seine zusammensetzung ändert. das wurde mir zum ersten mal bewusst, als ich davon erfuhr, dass t. w. die klasse verlassen würde. die un-bewusste neuorganisation wollte ich ausnutzen, um meinen status zu verbessern, was letztendlich tatsächlich gelang. vielleicht liegt die verschärfte wahrnehmung solcherlei sozialer prozesse an dem besonderen blickwinkel, der mir immer eigen war: ich gehörte niemals ganz dazu, nichts war unbeschwert natürlich, ständig bestand eine differenz zwischen mannigfachen ansprüchen und eigener wirklichkeit, stets war eine selbst-erfahrung als mängelwesen gegenwärtig.

Dieser Beitrag wurde unter diarium, literatur, poetik, selbstethnografie veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert