abends eine dokumentationsreihe über die industrialisierte landwirtschaft der gegenwart. was wir zu kennen meinen, ist nie die gegenwart, sondern bestenfalls die jüngere vergangenheit. kücken werden mit einem staubsauger vom boden einer gigantischen halle gesogen und auf förderbänder verfrachtet, vollautomatisiert werden sie in käfig-kartons verstaut und verschickt. ein narr nicht unbedingt, der dabei parallelen zieht zum eigenen leben. wie betulich und idyllisch ist dagegen das bild des hamsters in seinem rad. – hühner werden global vermarktet: die brust kommt nach europa, beine und flügel kommen nach afrika (wo die lokalen geflügelbauern zugrunde gehen, weil sie zu teuer produzieren), innereien nach thailand und mexiko, selbst die verschickung von kämmen und krallen nach china ist preisgünstiger als die entsorgung vor ort in europa. vergeudung von energie zugunsten der maximierung des profits. zur anreicherung von kohlendioxid in der atmosphäre kommt die anhäufung von schuld im andern himmel. man neigt bei solchen beobachtungen gemeinhin zu rigorosem pathos, weil einem das maß für eine vernünftige beurteilung fehlt. – eine niederländerin wird im supermarkt zu ihrem geflügelbrust-kauf berfragt, nein, ein ganzes huhn zu kaufen und zu kochen käme ihr nicht in den sinn, das sei doch „sehr eklig“. der bezug ist längst verloren gegangen: das leiden des einzelnen tieres, erst recht wenn es ein geradezu vermenschlichtes haus-tier ist, geht nahe, das qualvolle leben und sterben der hekatomben tiere, aus denen unsere lebensmittel gewonnen werden, kennt keiner. ich kann mich noch daran erinnern, wie schafe, schweine und kälber geschlachtet wurden, ich konnte das nie beobachten und verkroch mich immer. ein haus voll mord, kam mir in den sinn, den sinn eines womöglich allzu feinfühligen knaben; schon mir fehlt der bezug zum fleisch, weil ich das indivuelle schlachten nicht ertragen, geschweige denn selber ausführen kann. ich habe entnommene schweinelebern, gewaschene schafsdärme und gespaltene kälberleiber gesehen. die frage steht im raum: bin ich schon zu sensibel und mit dieser sensibilität kind meiner zeit? auf der einen seite das fleisch fertig verpackt aus dem supermarkt beziehen und nicht weiter danach fragen, sich auf der andern seite im urlaub an der weidenden kuh auf dem land erfreuen und über die industrialisierte landwirtschaft beschweren. kann man fleisch essen und sich trotzdem gedanken über die moral von landwirtschaft und lebensmittelherstellung machen? kann man eine bratwurst essen und sich über das leiden der tiere empören? unser kaufverhalten ist eine dreifache verletzung und wir bemerken keine einzige davon, weder was wir den tieren (und pflanzen …, der schöpfung, wenn man so ein wort gelegentlich in den mund nehmen möchte) antun, noch den menschen, die auf gedeih und verderb in diesem produktions-prozess vom erntehelfer im andalusischen mar del plastico und dem schlachtereigehilfen bis hin zur verkäuferin im discounter eingebunden sind, noch uns selbst, die wir uns lebensmittel, die auf diese weise produziert wurden und auf unsern tisch gelangten, einverleiben. es hilft nichts, auf fleisch zu verzichten oder nur noch produkte aus der näheren umgebung zu beziehen, man würde zum überheblichen pharisäer; es hilft nichts, in einen aufklärerischen furor zu geraten und die anderen aus ihrer verschuldeten oder unverschuldeten unwissenheit befreien zu wollen, denn man kann niemals alle überzeugen und muss daher aufgeben und das abweichende verhalten aushalten – oder gewalt anwenden. „ich möchte eine art finden, mit meinen mitmenschen zu reden, die eher ruhig als erregt ist, eher philosophisch als polemisch, die eher aufklärt, als uns zu spalten sucht in die gerechten und die sünder, die geretteten und die verdammten, die schafe und die böcke„, lässt j. m. coetzee seine protagonistin elisabeth costello in einem vortrag zum leben und sterben der nutztiere sagen. später wird sie von einem zuhörer gefragt: „für mich ist nicht deutlich geworden, (…) worauf sie eigentlich hinauswollen. meinen sie, dass wir die massentierhaltung einstellen sollen? meinen sie, dass wir die tiere humaner behandeln sollen, dass wir sie humaner töten sollen? (…)“ und sie hat keine schlüssige antwort darauf (j.m. coetzee, elisabeth costello. acht lehrstücke, frankfurt am main 2004, s. 86, 105). ich habe auch keine, mir ist selbst nicht deutlich geworden, was ich genau sagen möchte. – wir haben den bezug verloren, wir wollen am liebsten sein wie die pflanzen und uns aus leblosem material ernähren. das verdrängen von krankheit und tod hat die gleiche ursache wie unser zwiespältiges verhältnis zur ernährung: wir wollen nicht wahrhaben, dass wir wie alle anderen lebenden systeme in die bedingungen der biologie eingepasst sind. wenn man über den potsdamer platz eilt, von einem meeting zum nächsten und dabei kurz mit der anderen seite der erde telefoniert, kann man leicht darauf kommen, sich daraus gelöst zu haben. aber es holt uns immer wieder ein. wir mögen uns gedanken machen können (aber wer tut das schon …), das verleiht uns etwas besonderes, aber es befreit uns nicht.

im rheinischen merkur erregt sich andreas öhler über den fehlenden ernst in der jüngeren deutschen literatur: „(…) es grenzt zum beispiel ans obszöne, wenn sich eine junge autorin, wie vor Jahren beim klagenfurter ingeborg-bachmann-wettbewerb geschehen, schnell mal in die leidenspsyche eines guantánamo-häftlings einfühlt, selbst aber geborgen in der heimischen schreibstube womöglich ihr sattes preisgeld oder das literaturstipendium verknuspert. (…)“ er rät mit albert camus: „jeder künstler ist heutzutage auf die galeere seiner zeit verfrachtet. wir befinden uns auf hoher see. der künstler muss sich wie die anderen ans ruder setzen, wenn möglich, ohne über bord zu gehen, das heißt, er muss fortfahren, zu leben und zu schaffen.“ – von diesen worten fühle ich mich eigentlich nicht sehr herausgefordert, denn zum einen fühle ich mich nicht als literat, ganz im gegenteil, ich fühle mich eher gar nicht. bei coetzee heißt es: „voller leben zu sein heißt, als körper mit seele zu leben. ein name für die erfahrung des vollen lebens ist freude.“ deshalb heißt es auch zutreffend „freude schöner götterfunken“ und nicht „freiheit“ wie zum jahreswechsel 1989 in berlin gesungen wurde … mir fehlt diese erfahrung der freude. – zum andern bin ich mir unsicher, ob meine verzweiflung existentiellen charakter hat – oder eher eine wohlstands- und schönwetterverzweiflung ist, denn was weiß ich von den nöten eines arbeitslosen mannes, der eine familie zu ernähren hat, was von denen einer alleinerziehenden frau, die jede schikane erduldet, um nur die anstellung nicht zu verlieren, was von denen eines chinesischen wanderarbeiters, eines anschlagsopfers in bagdad, eines flüchtlings aus darfur, … ich kann mich nicht hineinversetzen. was weiß ich von der trostlosigkeit eines lebens in leipzig-grünau oder in neundorf, reitzenhain, carlsfeld … mir schien das verfahren, sich durch recherche („lesen sie autobiografien!“) fremden wahrnehmungsmustern nicht nur anzunähern, sondern sich in sie einzufühlen, immer sehr problematisch. mag sein, dass mich geschichtswissenschaftliche und ethnologische verfahrensweisen davon abhalten, aber letzten endes gilt reinhart kosellecks diktum, primärerfahrungen ließen sich nicht übertragen, für die literatur ebenso. es bleiben immer unsere eigenen worte, gedanken und gefühle, aber wenn wir in rollen und figuren schlüpfen und vorgeben, authentisch zu sein, belügen wir uns – und kommen keinen schritt weiter. wir können unsere eigenen befindlichkeiten, sorgen, existentiellen nöte nicht vermitteln, wie wollen und sollen wir da stellvertretend fremde ängste (und fremdes glück) vermitteln? es geht dabei nicht um einen simplen realismus, es geht um … wahrhaftigkeit, denn soweit verständigung überhaupt möglich ist, kann sie nur darauf gründen. – mit jedem tag und jeder stunde meiner wohlstandsexistenz verstricke ich mich nur tiefer und tiefer, häufe ich nur immer mehr … schuld auf. wie ein soldat, der nur noch mittrottet, aber zu keinem eigenen schritt mehr in der lage ist, kann ich nicht desertieren. wohin sollte ich auch gehen. meine gedanken drehen sich im kreise und auch auf der welt kann ich mich nur im kreise drehen, es gibt keinen ort, wohin ich fliehen, und nichts, scheint mir, dass ich tun könnte. ich kann mich ablenken, die nöte verdrängen, dieses und jenes tun, aber das wäre keine lösung. deshalb kann ich mich vermutlich auch nicht mit irgendeiner aufgabe abfinden. alles, was ich tun könnte, ich hätte ja einiges potential, wird mir immer wieder eingeredet, vielleicht stimmt das sogar – alles, was ich tun könnte, erscheint mir zuletzt doch lächerlich. die welt gerät in die brüche, die große wie meine kleine – und ich muss daneben sitzen und kann nichts tun, außer zuzusehen und zu verzweifeln. ich muss keinen hunger leiden, wenn ich krank werde, ist ein arzt da, aber das macht es womöglich nur schlimmer: ich kann mir nicht einmal selber helfen, ich beute die anderen mehr aus, als ich ihnen zum vorwurf mache. wenn die antipoden nicht für einen hungerlohn arbeiteten und meine nachbarn sich nicht tag für tag in die mühle des täglichen brotes begäben – was finge ich dann an? ich habe gut reden. (andreas öhler, die wollen nur spielen, in: rheinischer merkur 31 vom 30.07.09, vgl.: http://www.merkur.de/2009_31_Die_wollen_nur_sp.36111.0.html?&no_cache=1, letzer zugriff: 04.08.09; coetzee, costello, 100.)

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