das elektronische fiepen meines weckers klingt wie eine reihe von gewehrstößen, die in den frieden und die stille einer zu ende gehenden nacht abgefeuert werden.

in einem guten gedicht schimmern zwischen den worten und den bildern, die sie hervorrufen, weitere möglichkeiten der existenz auf. ein solches gedicht zeichnet sich durch seine fähigkeit aus, die wirklichkeit schillern zu lassen, so dass der verborgene reichtum darin wenn nicht fassbar, so doch wenigstens spürbar wird. (was ist wirklichkeit? – nichts weiter als die überlagerung von phantasien: treffen wir einen, der unsere verrücktheiten bestätigt – laub ist blau, frauen können auf besen durch die luft fliegen, der markt regelt sich selber, kohlendioxid erwärmt die erde, essen hilft gegen hunger, … – halten wir sie für wirklich und handeln, als seien sie wirklich, so dass sie, ob wirklich oder nicht, wirkung entfalten.) das detail einer stimmung, einer beobachtung, eines gedankens, … tritt so plastisch in erscheinung, dass plötzlich eine zweite wirklichkeit neben derjenigen vorhanden ist, die einem vor augen steht. gedichte sind erinnerungen an eindrücke und erlebnisse, die man selbst nie hatte:

ich rief / in der enteilenden dämmerung / nach einem namen. // grünhäutig / standen die weiden. / noch war es nicht sommer. // wie lang / war ich nicht in drübeck gewesen, / im vorhof des schweigens, / wo mit gegabelten wipfeln / vielhundertjährig / die linde steht, / grün bis zu den füßen, / als stürbe sie nicht, / wenn auch der stein, dessen schirmherr sie ist, / der jahrtausendealte, verwittert. // und groß ist ihr schatten, / unnütz nicht wie der unsere. / denn / wohin sollten wir gehen / in der enteilenden dämmerung, / wenn die gefesselten äste / die stählernen bänder zerreißen / und die labyrinthischen zweige / übers gesicht uns streichen, / ohne zu trösten? (uwe grüning, erinnerung an drübeck, in: ders., innehaltend an einem morgen. gedichte, berlin 1988, s. 20.)

(…) an der windschutzscheibe flügel / winziger erschlagener engel. (reiner kunze: raumfahrt im wagen des gastes, in: ders., auf eigene hoffnung. gedichte, frankfurt am main 2003, s. 13.)

vor der rathausfassade, / wo sich verwirrt / der straßen netz / zu einem tückischen knäul, / hält mit seiner brettkarre / der straßenkehrer, / wenn gemachen schwunges er / den markt fegt / zum samstag. (…) (wulf kirsten, marktflecken, in: ders., die erde bei meißen. gedichte, frankfurt am main 1987, s. 47.)

im garten sitze ich, am runden tisch, / und hab den ellenbogen aufgestützt, / daß er, wie eines zirkels spitze, / den mittelpunkt der welt markiert. / ein baum umgibt mich mit vielfachem grün, / und langsam steigt das blütenreiche meer / des frühen jahrs. die vögel brülln wie irr. / über mich hin spazieren schöne schatten, / und blütenblätter fallen auf den tisch / und schmelzen, schnee! die äste triefen schwarz, / und von der straßen her kommt ein geräusch, / das war mein leben. plötzlich bin ich luft / und sitz noch hier und rede zu dem baum, / ob er nicht doch die länder wechseln könne, / sein unerhörtes blühen aufzuführen, / wo einer noch mit seinem ellenbogen / den mittelpunkt der welt markiert. (thomas rosenlöcher, der garten, in: ders., ich lag im garten bei kleinzschachwitz. gedichte & zwei notate, halle/leipzig 1982, s. 7.)

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