es ist unmöglich, die fülle der gedanken festzuhalten und ins einzelne auszuführen. ich war ein wochenende lang damit von früh bis spät beschäftigt, einige gedanken niederzuschreiben, die ich zuvor in stichpunkten notiert hatte. obwohl ich drei tage dazu verwendete, bin ich nicht einmal mit dieser liste fertig geworden. aus einem gedanken ergibt sich ein weiterer und immer so fort. wo es keine vorstellung gibt, was gesagt werden soll, sonder die assoziation das einzige prinzip ist, kann es kein ende geben. die gedanken treiben immer weiter, der text generiert sich aus sich selbst heraus. die müdigkeit und der mangel an zeit und raum zwingen zum abbruch. alles ist scheitern, könnte man insofern sagen, ohne sich der verzweiflung anheim zu geben, denn: scheitern heißt lediglich nicht ganz gelingen. aber der abbruch ist stets mit traurigkeit verbunden. denn während man schreibt, weiß oder ahnt man zumindest, was man noch alles notieren könnte, sollte, müsste. in die befriedigende erschöpfung am ende eines solchen tages mischt sich ein tiefes bedauern über all die gedanken, die nicht festgehalten werden konnten, deren verästelte einzelheiten unbedacht blieben. – die vorstellung, was ich in der vergangenheit, in den letzten zehn, fünfzehn jahren hätte alles notieren können, ist eine illusion. wie heute die zeit fehlen würde, gäbe ich mich nicht mit einem geradezu selbstzerstörerischen furor diesen zeilen hin (und nur diesen; alles andere ist trost-los), fehlte sie auch in diesen jahren. freilich: es kommt auf die prioritäten an (binsenweisheit …). und wer gezwungen ist zu schreiben, schreibt. sicherlich stimmt es auch, dass man sich erst allmählich eine form zu sehen und zu schreiben schaffen muss, dass man sich ferner emanzipieren muss von sprech-tabus – aber trotz alledem hätte ich nur einen bruchteil von dem notieren können, was mir alles so in den sinn kam. ganz abgesehen davon, dass sich die gedanken erst beim verfertigen entwickeln, so dass ich aus dem, woran ich mich erinnere, nicht unbedingt die menge der notizen hochrechnen kann. nicht zu ermessen, wohin mich die worte und gedanken geführt hätten. vermutlich musste aber so viel zeit ins land gehen, mussten so viele erfahrungen gesammelt werden, bis ich diese priorität so setze. von früh bis spät schreiben, weil ich schreiben muss, von früh bis spät lesendenkenschreiben, weil ich lesendenkenschreiben muss. ich kann von dem vierzehnjährigen, der ich einmal war, nicht diese un-bedingte bereitschaft erwarten. einstmals bemühte ich mich, auf alles und jeden rücksicht zu nehmen, so hatte ich kaum zeit und konnte erst recht kaum etwas notieren, wenig schreiben. gewiss: ich wusste auch nicht, was ich notieren und schreiben sollte und ich hatte angst davor, die entstehenden texte würden meine mittelmäßigkeit beweisen. gleichwohl trug die allzu große rücksichtnahme, wie mir heute scheint, nicht unwesentlich zur beschränkung meiner möglichkeiten bei. ich weiß heute, jetzt: man muss manches mal rücksichtslos seine interessen bevorzugen, nicht zuletzt um, paradoxerweise, die souveränität und gelassenheit zu gewinnen rücksicht nehmen zu können. anders ausgedrückt muss man nein sagen lernen, um ja sagen zu können (noch eine binsenweisheit, aber wie es mit ihnen so geht, man muss die erfahrungen bitter machen, denn eine binsenweisheit befolgt man anders nicht). ich merkte an diesem wochenende, wie ich ruhiger, freundlicher und rücksichts-voller wurde, weil ich mich den ganzen tag auf meine dinge konzentrieren konnte. wenn man sich gezwungen fühlt, aus einer geschuldeten rücksichtnahme heraus, dieses und jenes zu tun, kommt man nicht zu seinem eigenen, denn irgendwann ist man auch müde – und ungehalten ärgerlich dazu. hat man sein tagwerk hinter sich, sind die zugeständnisse leichter möglich. wo die hilfe ein zusatz zum tagwerk ist, krönt sie es. das ehrenamt darf die eigentliche aufgaben nicht ersetzen. das gerät schief, da darf man keine aus-zeichnung erwarten, kein lob, keine ermutigung. wo es sie ergänzt, zeichnet es den menschen aus. – ich stelle mir vor, ich kaufte mir ein kleines dina6-notizbuch (oder eben ein heft in dieser größe) und hielte darin alle beobachtungen und gedanken fest, wenn ich nicht daheim war und am rechner sitzen konnte. an dem blauen siemens-nixdorf-rechner mit dem ausgefallenen design. (ich nahm beim kauf fälschlicherweise an, magisches denken!, besonders geformte werkzeuge würden es mir erleichtern, ermöglichen, tätig zu sein und besonderes zu vollbringen. die konzentration auf das arrangement des arbeitsplatzes ist dabei eher kontra-produktiv: stell einen tisch in eine stube, einen stuhl davor, leg ein blatt darauf, nimm einen bleistift und sit down and start up. es genügt. ein gedicht lässt sich nicht von besonderem papier und gutem stoff beeindrucken, es kommt oder es kommt nicht.) aber ich frage mich zugleich, ob ich tatsächlich alles hätte so notieren können, selbst wenn ich es wahrgenommen hätte und notieren wollen. immer wäre die gefahr vorhanden gewesen, dass jemend diese notizen gelesen hätte. ich erinnere mich, wie ich einmal schreiben wollte, ein protagonist hätte sich verliebt. ich war vielleicht neun oder zehn und saß in der klasse meiner mutter, während die anderen sportunterricht hatten, von dem ich dispensiert war. aus der furcht, ich könnte beobachtet werden, jemand könnte mitlesen, während ich schrieb, ließ ich eine lücke und ergänzte das wort später. ich hatte lange zeit angst vor der entblößung. heute besitze ich wenigstens so viel gelassenheit und souveränität, dass es mich nicht weiter kümmert, wenn wer mein schwarzes notizbüchlein in die hände bekäme und darin läse. eher im gegenteil: um deutlich zu machen, wieviel mehr hinter der vermeintlich uninteressanten buchhalterfigur mit pollunder und bleistift hinterm ohr steckt, als die ich erscheine, wäre es mir zuweilen ganz recht, es läse eine-r darin. man muss dich entdecken, wurde mir so häufig gesagt, dass es offenbar tatsächlich eine differenz zwischen dem ersten und dem zweiten blick gibt. es (er-)kenne mich die welt. heute weiß ich: je mehr man sich entblößt, desto mehr verbirgt man sich. ich stelle mir vor, ich eile über den annaberger markt in das papiergeschäft am platze, kaufe mir eine notizbuch und beginne zu schreiben. lesendenkenschreiben. ich stelle mir vor, ich warte auf die nächste stunde, während meine klassenkameraden (klingt so nach drittem reich und zweitem weltkrieg …) sportunterricht haben, und notiere. ich stelle mir vor, ich komme nach hause, setze mich an den rechner, den blauen, und notiere. fünfundzwanzig, dreißig seiten im monat, säuberlich ausgedruckt und abgeheftet in aktenordner 1995, 1996, 1997, … stapel von papier und büchern: strittmatter, brecht, thomas mann, ernst jünger, hoffmann, proust, … gedichte. geschichte. lokales. zeitungen. ich stelle mir vor, ich trüge beim heuwenden, schneeschippen, kartoffellesen, … immer mein notizbüchlein bei mir. ein differenzierter ausdruck setzt differenzierte eindrücke voraus. – ich lag heute morgen im bett und war sehr niedergeschlagen: am liebsten würde ich mit einem großen stapel bücher irgendwohin fahren und dort von früh bis spät lesendenkenschreiben. dann fiel mir ein: von früh bis spät bücher lesen und schreiben kannst du überall, auch dort, wo du gerade bist. sit down and start up. daraufhin ging es mir besser und ich konnte aufstehen. ich griff aus dem regal wahllos ein buch (friederike mayröcker, das licht in der landschaft, frankfurt am main 1994.); kaum hatte ich zwei seiten gelesen, als mir eine fülle von einfällen kam. aber sie alle notieren – ist unmöglich. allenfalls ein gehetztes stenogramm kann gelingen, ein stenogramm des lebens.
ein tag ist ein guter tag, wenn ich drei seiten schreibe – und seien sie gefüllt mit notizen dieser art. wie sagt walter kempowski über das tagebuch: tage ohne eintrag kommen mir dumm und leer vor. (zit. nach: ein etüdenspiel. kempowskis antwort zum thema tagebuch, in: volker hage: walter kempowski. bücher und begegnungen, münchen 2009, s. 106.)
am abend eins so erfolglosen tages braucht man eine frau. ihm käme nichts so erlaubt vor, wie jetzt mit der bedienung zu schlafen. (…) woher kommt eigentlich die immer in uns lebendige hoffnung, dass sich unser leben noch einmal ändern wird? (…) die leute, die sich pessimisten nennen, sind jene, bei denen diese immer schlummernde und halbwache hoffnung besonders heftig ausgebildet ist, (…) das leben fordert helden auf jedem platz. (…) wäre alles so schön wie die frauen, dann wäre alles schön. (martin walser, leben und schreiben. tagebücher 1951-1962, reinbek bei hamburg 2005, s. 342 passim.)