man kann nicht umhin: die ddr wäre 60 jahre alt geworden – und die häfte ihres tatsächlichen alters, zwanzig jahre, besteht jetzt schon dieses nachwende-deutschland, das man mit dem label berliner republik auch nicht recht fassen kann.
wenn man durch leipzig läuft und sich die ereignisse vom herbst noch einmal vor augen führt, will es einem immer noch erscheinen wie eine fata morgana. manchmal ist es als könnte man die rufe noch hören, wir sind das volk, wir sind das volk, trotz alledem und alledem – oder gehe ich da ton-installationen auf den leim? am neunten oktober war die chinesische lösung wahrscheinlicher als alles andere – und weniger als ein jahr später wurde die wieder-vereinigung vollzogen, mit der, wie immer man sie im einzelnen bewerten mag, eine rückkehr zu den alten verhältnissen, eine restauration des ancien régime unmöglich machte. die sächsisch eingefärbten rufe vor den ruinen der frauenkirche „deutschland einig vaterland, deutschland einig vaterland“ wirken immer noch grotesk. die bedrückende verzweiflung einer frau, die anfang oktober vergeblich versuchte, in die amerikanische botschaft in ostberlin zu gelangen, ist inzwischen so un-wirklich geworden, dass man sich nur verwundern kann über die veränderungen, die erst vierzig jahre auf sich warten ließen und dann, als sei eine stau-mauer in der zeit gebrochen, um so heftiger über die welt geradezu hereinbrachen. wenn man sich die frisuren und bärte, die kleidung und gesten jener demonstrierenden oder ausreisenden ostdeutschen, aber auch die aufgeplustertheit der west- oder altbundesdeutschen (und zwar sowohl in hinsicht auf ihre bekleidung als auch auf ihren gestus) noch einmal anschaut, bekommt man einen eindruck davon, wie weit weg, wie fremd das alles geworden ist. man könnte leicht mit thomas mann vom „historischen edelrost“ sprechen, mit dem dies alles überzogen ist.
und ich selber muss mir eingestehen, dass ich auf ostdeutscher seite eher systemkonform gewesen wäre, allenfalls ganz verborgen hinter vorgehaltener hand vorsichtig und klug schwafelnd kritik geäußert hätte – und noch dazu in dem sinne, dass der sozialismus eigentlich erst noch verwirklicht und die stalinistische pervertierung davon überwunden werden müsste. ich hätte mich weder zu einer massiven systemkritik aufraffen können, weil ich nicht erkannt hätte, wie grundfalsch das system war und notwendigerweise diktatorisch sein musste, noch hätte ich den mut aufgebracht, mich einzumischen und vom bürgersteig auf die straße zu treten. ich wäre entweder ein buckliger mitläufer gewesen oder längst an dem system zerbrochen. auf westdeutscher seite hätte ich ohne zweifel zu jenen gehört, die sich längst mit der teilung abgefunden hatten und denen die toskana näher war als leipzig oder dresden, die für reformen, aber gegen wiedervereinigung waren, ganz bei lafontaine, gar nicht bei kohl. aber, wer weiß schon, wie er in einer bestimmten „geschichtlichen stunde“ tatsächlich reagiert hätte? man darf sich über irreale konjuktive nicht grämen, wie man sie andererseits auch nicht benutzen darf, um nur irgend einschlafen und die gegenwart halbwegs aushalten zu können.
kann man sich in münchhausenweise an den eigenen worten aus dem sumpf der verzagtheit ziehen? oder braucht man einen gesprächs-partner – in analogie zu dem physikalischen gegen-part, den man zu jeder bewegung, zu jeder kraftanwendung braucht?