dies academicus: vor sechshundert jahren, kleine kalender-ungenauigkeiten einmal groß-zügig übersehen, wurde im refektorium des klosters zu st. thomas von studierenden und lehrenden, die aus prag gekommen waren, im beisein der landesherren friedrich und wilhelm wettin die universität leipzig kann man sagen: aus der taufe gehoben? sechshundert jahre, das trennte den tod karls des großen, mit dessen krönung manche (wenige) erst das mittelalter beginnen lassen, vom scheiterhaufen-tod des jan hus (was wiederum einen bezug zum jubiläum des tages hat), den man als letzten gelungenen versuch der mittelalterlichen kirche verstehen kann, ihre einheit im lateinischen europa zu bewahren. sechshundert jahre, die vor einem menschenleben ungeheuer wirken, vor dem eines baumes zwar immer noch eine große zeitspanne sind, die aber mit glück durchmessen werden kann und im angesicht der sterne … in der nacht, kurz nachdem die glocken von st. nicolai und die am krochhochhaus, wo nach dem zweiten weltkrieg die sozialistische einheitspartei ihren sitz hatte und die anfangs renitente universität gut im auge hatte, zwölf uhr schlug, lief ich über den innenhof, der unmotiviert leibnizforum heißen soll, ließ meinen blick schweifen und sah am uniriesen-weisheitszahn hinauf in die städtisch illuminierte nacht, die mit dünnen wolken bedeckt war, so dass man keine sterne, wohl aber den vollen mond sehen konnte, das ägyptisch-vorderasiatische zeichen für gelehrtentum und schriftkundigkeit: ein gruß, wenn man so will, aus dem tiefsten überlieferungsgrund. gelegentlich schoben sich schleierfetzen dünner wolken zwischen mich und das hochhaus, als stünde ich nicht auf verfestigtem grund, sondern wandelte durch schwankendes moor. aber nicht allein, weil stadt und hohe schule auf sumpfigem gelände errichtet wurden, woraus manche namenforscher neuerdings auch den namen des ortes herleiten, schien mir dieser eindruck passend, sondern auch in übertragener weise angesichts als der vielen geschichten, die unterm teppich unerzählt ihr dasein fristen müssen, aber trotzdem wirken und das selbstverständnis auf diese weise derart verunsichern. – ich wollte noch die grimmaische straße entlanglaufen, über den verwaisten weihnachtsmarkt (nur mitternächtliche weihnachtsmärkte sind erträgliche weihnachtsmärkte) und vor st. thomas innehalten, sehen, ob ich nicht etwas spüren könnte, ob mir nicht etwas einfiele, aber es wurde unter der hand und ehe ich mich versah sehr spät.

wochenlang schrieb ich von einigen kleinen nachrichten abgesehen, die aber der stunde und ihren forderungen oder leidenschaften geschuldet waren, keine einzige zeile. nulla linea. ich bin, würde der psalmist vermutlich schreiben, vertrocknet wie ein verdorrter weinstock und muss mich erst wieder mühsam ins schreiben hinein finden, denn alle diese zeilen, die ich nach langer frist wieder fülle, erscheinen mir abgeschmackt, fad und inhaltsarm im vergleich zu jenen vom sommer oder vom frühen herbst.

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