beim jüngsten comenius-forum in annaberg trat stanislaw tillich auf und sprach zu „den werten für staat und zivilgesellschaft in sachsen“, wobei er die vielfalt der lebensweisen in der gegenwärtigen gesellschaft thematisiert habe. „trotzdem gibt es drei grundwerte: freiheit, gleichheit, brüderlichkeit“. – irgendjemand übersetzte unlängst den schwammigen begriff der „brüderlichkeit“ versuchsweise einmal mit solidarität. aber alles in allem reibt man sich schon ein wenig verwundert die augen: tillich redet von pluralismus, zivilgesellschaft und den werten, die beidem zugrunde liegen. die schlagworte der französischen revolution bleiben: schlag-worte, phrasen, hüllen. man merkt den ingenieur, der keine vorstellung von der bedeutung dessen hat, worüber er spricht, denn die affäre um verkaufte termine mit dem ministerpräsidenten und landesparteichef belegen, wie sehr das staatsverständnis der sozialistischen diktatur bei den sächsischen funktionseliten nach wie vor prägend ist. da redet der blinde von der farbe; aber keiner tritt auf und sagt, der kaiser sei doch nackt.1 das bedauerliche daran ist zum einen die kontinuität der provinziellen mentalität ostdeutschlands weit über die wende hinaus, zum andern aber die tatsache, dass sich diese art von denk- und verhaltensweise durch den druck der globalisierung mit seiner rückkehr des regionalen („glokalisierung“, nennt das manch ein ethnologe) und durch die selbstreproduktions-mechanismen von eliten eher noch verschärfen wird. wer eine andere auffassung von konservatismus hat, eine andere vorstellung von „sachsen“, wird es zunehmend schwerer haben, gehört zu werden, geschweige denn gestalten zu können, wenn er nicht ganz und gar marginalisiert wird, so dass er sich resigniert in eine nische zurückzieht oder abwandert. die leidenschaft für eine bestimmte weltprovinz (etwa „mitteldeutschland in mitteleuropa“) bedeutet dabei freilich nicht notwendigerweise einen verzicht auf einen weiten horizont. provinz muss nicht provinzialismus nach sich ziehen; mit dem schlagwort der „welt im dorf“ ließe sich auch die verknüpfung von kosmopolitismus und regionalismus denken („da mal nachhaken …“, könnte man mit kempowski reden).
„sichuan“ etwa oder „nanking“ sind hervorgehobene, aufgeladene orte auf der karte in meinem kopf; kaum fällt mein blick auf eines dieser schriftbilder, tauchen bilder und vorstellungen auf von uralten chinesischen gelehrten in weißen gewändern, die aus zarten porzellanschalen grünen tee trinken und tuschezeichnungen anfertigen oder gedichte schreiben.
bei aller überzeugung von der befreienden stärke der beschreibbarkeit der welt vermittels der sprache bleiben zweifel und unbehagen angesichts der unüberwindbaren vermittlungschwelle zwischen mir und dem nächsten individuum.2 hoffmannsthals brief an lord chandos. hat rilke am ende doch recht, wenn er einschränkend feststellt: „wo man etwas sagbar macht, da nimmt auch schon das unsägliche dahinter maßlos zu.“ wobei zu fragen wäre, ob das, was man nicht sagen kann (und von dem man deshalb nach wittgenstein schweigen muss), tatsächlich das unsägliche ist.3
1 vgl. chemnitzer freie presse vom 10.03.10, annaberger ausgabe. – ich bemühe mich, jeden in seiner art gelten zu lassen und mich mit meinem vermeintlichen besseren wissen zurückzuhalten, aber zu dieser art achtung vor dem andern und seiner abweichenden meinung gehört der eindruck, dass er es ernst meint – und ich kann mich hier nicht des eindrucks der floskelhaftigkeit erwehren. gewiss, zugegeben, ich verwende vermutlich auch weitaus mehr inhaltsarme phrasen, als ich mir bewusst bin, aber ich hoffe doch, mein bestreben nach authentizität ist zu erkennen. – grundsätzlich bleibt die frage: soll man sich zu tagespolitischen themen äußern? mir scheint dabei zum einen die gefahr einer ständigen kurzatmigkeit gegeben zu sein und zum anderen die stete versuchung der intellektuellen besserwisserei (auch ich ein blinder, der von der farbe redet …). ganz davon abgesehen bin ich beherrscht von der konfliktscheu des ostdeutschen und seiner furcht, die eigene meinung zu äußern – und statt dessen lieber versucht, nichts zu sagen oder zustimmung zu heucheln. aber das ist vermutlich auch nur eine stilisierung eigener befindlichkeiten zu einem feldzug für die zivilgesellschaft … im hinterkopf ist außerdem die selbstkritische frage, ob ich überhaupt eine meinung habe (der innenohrwenzel verkleidet sich als helmut schmidt und grummelt: „dummes zeuch!“).
2 ich weiß selber, dass es sich hierbei um einen unmöglichen satz handelt. phrasen statt verben. und du willst ein stilist sein, fragt der innenohr-wenzel und winkt ab. – meine neigung zur schwere und länge von sätzen, die keiner durchschaut und begreift, ich selbst nicht einmal. ach gib’s doch auf, zitiert der wenzel den bruder eugen rapps (oder war’s der schwager, aber das ist auch schon einerlei). siehe etwa: hermann lenz, seltsamer abschied.
3 hier kommt sich einer verdammt schlau und reflexiv vor: hoffmannsthal, rilke, wittgenstein – da wird mit pfunden gewuchert, die er nicht besitzt, ja nicht einmal zu überschauen vermag. inszenierung von intellektualität. performative intelligenz oder: so tun als ob (man schlau wäre). fragt sich nur, was besser ist: ob man es selber glaubt oder gerade als einziger nicht. – manchmal möchte ich mich vor scham und zorn über mich selber in einem fort geißeln oder mir stückchenweise das fleisch vom gebein trennen, bis nichts mehr übrig ist wie in einer chinesischen foltermethode (mo yan: die sandelholzstrafe).