der literaturkritiker werner fuld, der in seinem buch über verbotene bücher eine generalabrechnung mit der so genannten ddr-literatur vornimmt (kurzum: was in der ddr erschien, ist – aus äthetischen gründen – keine literatur, sondern allenfalls lebenshilfe und ratgeber gewesen) beweist wieder einmal den umstand, dass der kalte krieg im westen des landes eine ost(mitteleuropa)blindheit erzeugt hat. ähnlich wie altbundesrepublikanische historiker vom schlage stürmer, winkler, wehler („fußnote“) ist allem anschein nach fulds wirklichkeitswahrnehmung von den kategorien der frontstellung aus der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts geprägt.
wenn er das kriterium „ästhetik“ anlegt, verwendet er dabei letzten endes nur eine art methodischer black box, die es unmöglich macht, seine urteile nachzuprüfen, und statt dessen dazu zwingt, seine generalisierung auf treu und glauben hinzunehmen. fulds analyse ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil er von einem absoluten zensurbegriff ausgeht und dabei in keiner weise zu berücksichtigen scheint, wie dynamisch sich die zensur in der ddr entwickelt hat und wie vielgestaltig die strategien von autoren und verlagen war, mit der zensur umzugehen.
es ließe sich mit gleicher polemik eine gegenthese formulieren (die zwar auch nicht uneingeschränkt zutrifft, aber immerhin wissen wir mit martin walser, dass nichts ohne sein gegenteil wahr ist): weil der autor sich der zensur bewusst ist, wird er zu ästhetischen anstrengungen gezwungen, mit dem ihm möglichen mitteln dinge zu sagen, die eigentlich nicht gesagt werden können (oder dürfen), und zwar so zu sagen, dass sie verstanden werden können, aber nicht verstanden werden müssen. man ist versucht, an das schlagwort „postmoderne“ zu denken, wenn es inzwischen nicht ebenso zu einer phrase geworden wäre, die alles und zugleich nichts bedeutet.
literatur hat immer eine lebensrettende funktion; literarische texte, die lediglich äthetischen anforderungen genügen, haben keine relevanz – aber das ist nur eine theoretische annahme, weil sich kein literarischer text denken lässt und sei er noch so artifiziell, der lediglich ästhetisch ist und darüber hinaus keine wirkung entfaltet, durch die lektüre keinen wie auch immer gearteten und wie auch immer gerichteten denkprozess auslöst.
werner fulds buch ist einzuordnen in die reihe publizistischer unternehmungen seiner generation, die bundesrepublik aus der nachträglichen sicht in einem unanständigen schwarz-weiß-schema zu rechtfertigen, die jede kritische nachfrage und jeden wunsch nach einer differenzierten betrachtung als ddr-verklärung delegitimieren soll. dabei versperrt diese art akademischer westalgie gerade den blick auf den entscheidenden unterschied zum regime im osten: die fähigkeit des demokratisch verfassten systems zur beständigen selbsterneuerung, die in seiner struktur angelegt ist.
in fulds lesart wäre nicht nur jede literarische veröffentlichung aus ostmitteleuropa mindestens seit dem ende des zweiten weltkrieges mit der errichtung volksdemokratischer sowjetischer satellitenstaaten wertlos und dementsprechend über ein kurzes vergessen, sondern auch etwa die ganze literatur des inneren exils oder beispielsweise texte wie ernst jüngers parabel auf den marmorklippen. das vorhandensein von zensur als literarisches bewertungskriterium in ästhetischer hinsicht ist erst recht absurd, wenn man etwa das 19. jahrhundert oder gar die frühe neuzeit betrachtet. in leipzig war im 18. jahrhundert zum beispiel jedes buch erhältlich, auch wenn es in dresden auf dem index des oberkonsistoriums stand und was in leipzig nicht gedruckt werden konnte, wurde in halle gedruckt. yiwu lius interviewbuch über fräulein hallo und den bauernkaiser, das die soziale realität der gegenwärtigen chinesischen gesellschaft beschreibt, besäße mit fuld ebensowenig literarischen wert, zumindest in dem umfang, in dem es in gekürzter fassung in der volksrepublik erschienen ist.
je weiter man den blick ausdehnt, desto offensichtlicher wird, dass fuld eher eine kampagne unternommen hat und durch eine polemische provokation aufmerksamkeit produzieren möchte, als einen redlichen versuch über verbotene bücher im allgemeinen und die literarische qualität der in der ddr oder unter welcher art von zensur auch immer veröffentlichten literatur zu wagen.
zur ehrenrettung fulds möchte man einschränken, dass er nicht nur über verbotene bücher in der ddr geschrieben, sondern eine universalgeschichte des verfolgten und verfemten von der antike bis heute vorgelegt hat, aber dieser umstand kann eben nicht recht zur ehrenrettung dienen, weil so ein generalisierender blick derart verzerrend wirkt, dass man ihn nicht ernstnehmen kann: wer wollte mit gleicher genauigkeit über die zensur in mailand, florenz, venedig im 16. jahrhundert wie über verbotene bücher im ptolmäischen ägypten schreiben können?
es ließe sich zu meinen anmerkungen zweierlei einwenden: einmal reagiere ich lediglich auf ein interview mit fuld statt mich mit seinem buch auseinanderzusetzen und handle damit auf eine verkürzende, selbstemporungssüchtige weise, die ich beklage und, das ist der andere punkt, ich verstehe fuld offenbar bewusst falsch oder zumindest ungenau verkürzt, um wieder einmal mein lamento über das fehlen des ostens im diskurs anzustimmen. das kann ich nicht ganz von der hand weisen: mir geht es in erster linie nicht um fulds buch und dessen mängel, sondern ich nutze lediglich die gelegenheit, um für eine differenzierte, differenziertere betrachtung der deutschen teilung zu werben. und immerhin liegt es auf der hand, mit welch grober münze fuld in dem interview austeilt; auch wenn das buch abgewogener sein mag, das interview ist zugespitzt und ich kann es, einmal gehört, aus meinem mitteldeutsch-mitteleuropäischen blickwinkel nicht unwidersprochen stehen lassen.
im übrigen bin ich einstweilen nur nur in der lage, bemerkungen zu machen und allenfalls noch wege und vorgehensweisen skizzieren, weil mir fürs erste die zeit fehlt, meine einwände ins einzelne auszuführen, vielleicht finde ich nie die gelegenheit, den sachverhalt hinreichend genau darzustellen, vielleicht sind meine erwartungen grundsätzlich zu hoch, sowohl an mich wie auch an die debattenteilnehmer überhaupt. aber die alternative, statt dessen eben schlichtweg zu schweigen, erscheint mir ebenso unredlich.
1 werner fuld, das buch der verbotenen bücher. universalgeschichte des verfolgten und verfemten von der antike bis heute, bln. 2012. interview mit werner fuld im deutschlandradio kultur vom 19.04.12 (url: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1734518/, letzter zugriff: 19.04.12).
wie jeder andere (vielleicht auch mehr als mancher andere) freue ich mich über die bestätigung meiner bemerkung: „(…) allerdings gerät er [werner fuld, sri] bei der ddr derart in rage, dass die kontrollwut der nazis und was sie passieren ließen dagegen fast harmlos wirkt. zwar sind beispiele, etwa der umgang mit nico rost und seinem kz-bericht oder dem goethebuch von hildegard emmel, tatsächlich schurkenstücke, aber damit die gesamte ddr-literatur zu verdammen, ist selbst nicht ohne verfolgungswut. (…)“ (erhard schütz, vertrauen sie ihren eigenen formulierungen!, in: der freitag vom 14.06.12, s. 17).