walter kempowski schreibt über sein tagebuch: „(…) da ich das haus selten verlasse, schreibe ich auch tagsüber jede nur denkbare beobachtung ein, auch reflexionen und all das, was ich mir sonst nicht durchgehen lassen darf: klagen und schimpfereien. (…) mein jetziges tagebuch trägt die nummer 111, jeden tag kommen zehn, manchmal auch mehr seiten dazu, ich freue mich, wenn sich die bücher füllen, das ist wie ein sich selbst vermehrender schatz. tage ohne eintrag kommen mir dumm und leer vor. (…) immer wieder bin ich verblüfft, wie die tatsächlichkeiten in der reflexion ihren fiktiven charakter freigeben. erst in der ausformulierung entstehen die tatsachen, an denen ich mich orientiere. ich vervielfache mein leben durch die täglichen notate, ja, ich erfülle es. (…) ein schriftsteller, der kein tagebuch schreibt, ist irgendwie schief gewickelt, mit dem stimmt was nicht. (…)“ (zit. nach: ein etüdenspiel. kempowskis antwort zum thema tagebuch, in: volker hage: walter kempowski. bücher und begegnungen, münchen 2009, s. 106f.) – – – dem kann ich nur zustimmen: ich freue mich auch, wenn die seitenzahl im textdokument wächst und die anzahl der gefüllten notizbücher zunimmt; ich habe in diesen zeilen auch irgendwo schon einmal davon gesprochen, dass ich immerzu mit offenen augen auf der suche nach material umherlaufe, mir erst durch die verschriftlichung meiner erlebnisse und beobachtungen meines daseins so eigentlich bewusst werde, das gefühl habe, meine texte wie eine gewaltige schleppe hinter mir herzuziehen. es gelingt mir jedoch im augenblick noch nicht durchgängig, ständig das notizbuch greifbar zu haben und auch tatsächlich zu notieren. ich habe zwar beispielsweise beim autofahren ein diktiergerät dabei, um das eine oder andere mit grobem strich festzuhalten, aber erstens funktioniert es nicht zufriedenstellend und zweitens fehlt mir danach die zeit zur ausformulierung und reinschrift. aber es bleibt das ziel: ständig notieren, um aus der fülle einiges destilieren zu können – ganz im sinne der pechblende. und fragt jemand, wer das alles lesen soll, so antworte ich: keiner wird gezwungen, meistenteils handelt es sich ohnehin nur um fingerübungen, aber warum sollte man sie arkan betreiben? transparenz und glasnost lassen sich mit den gegenwärtigen technischen möglichkeiten so leicht wie noch nie realisieren; auch sie haben ihren reiz – zumal so viel vorerst noch ungesagt bleibt, bleiben muss, nicht ausgeprochen werden kann, darf. – ferner teilt kempowski seine affinität zu büromaterialien mit: „(…) ich hatte eine schwäche für karteien. ich spielte gern mit leeren karteikarten, besaß mehrere karteikästen in verschiedenen größen, wusste jedoch nicht, was ich damit anfangen sollte. büromaterialien haben mich schon immer fasziniert. ein sauber gespitzer bleistift, ein füllfederhalter mit goldener feder, ordner, vorordner, notizbücher jeder art und karteien. (…)“ (zit. nach: „bis ans ende meiner tage“. interview in nartum, september 1993, in: ebd., s. 96.) – – – man könnte sagen: alles was ich tue, tue ich, um mich mit büromaterialien umgeben zu können. der inhalt ist mir letztendlich gleichgültig, es kommt mir nur auf das abheften, ordnen, verzetteln, auf die spitzen bleistifte und auf die notizbücher an … aber so ganz stimmt das auch wiederum nicht, denn sobald ich irgendwo büromaterial sehe, denke ich: was ich damit wohl alles notieren, erforschen, herausfinden könnte?
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