h. z. empfahl mir vor einiger zeit die lyrik von kito lorenc, mit dem er seinerzeit gemeinsam in leipzig studierte. ich lieh mir vor wochen einen band sorbischer lyrik aus, den lorenc als herausgeber betreute (das meer. die insel. das schiff. sorbische dichtung von den anfängen bis zur gegenwart, heidelberg 2004) und las den band – nicht, sondern ließ ihn im regal stehen. letzte woche ging ich daran vorüber, ergriff ihn aus einer neugierigen erwartung heraus und begann zu lesen. derart gefesselt, dass ich mir alle lyrikbände organisierte, die auf die schnelle greifbar waren. im band flurbereinigung. gedichte (bln./weimar 1973) fand ich in einem beigefügten text sätze wie: (…) und dieser fünf jahre am sorbischen institut bedurfte es wohl noch, ehe ich begriff, daß dies unveräußerlich und legitim meine heimat geworden war, dieses „trjebin-slepo-miłoraz“, dies „glückliche dreieck meiner kindheit“. ein jeder, und will er gar dichter sein, braucht wohl etwas wie heimat, vor der er zu bestehen sucht. (…) zugleich aber wusste ich auch, dass sie kein eingehegtes, noch so „glückliches dreieck“ sein kann, die heimat. jeder versemacher benötigt auch einen angemessenen, zu bewältigenden raum. gleich einem zirkel schlägt er sich in diesen „prägnaten punkt“, nennen wir ihn also heimat, und schwingt seine kreise, die ihm anstehen, misst seinen raum ab nach wissen und gewissen. dass dies kein geographischer sein kann, spürt er bald. (…) zumindest weist dieser raum über das geographische hinaus, hinab und hinauf. thomas rosenlöcher beschreibt den ellenbogen, den er auf den tisch stützte, auf dem er schrieb, als zirkel, um den sich seine welt entfaltet bis ins fernste ferne; bei seinen wanderungen durch suffolk greifen die gedanken w. g. sebalds immer weiter hinaus ins zeitliche und räumliche, schweifen immer weiter – wie die ringe des saturn. die beschränkung ermöglicht erst die ausbildung von sensibilität, so dass im kleinen die fülle deutlich wird, die einem im großen überwältigte: in grenzen unbegrenzt.- mir ging es ähnlich: ich musste erst fortgehen, in eine halb-entfernung ausweichen, damit ich ankommen konnte. mir fällt ein, was mir fehlt, sagt martin walser. insofern muss man etwas erst verlieren, um es wahrzunehmen. mit verlust und kindheit hängt heimat deshalb so eng zusammen, weil sie vor allem ein teppich von erzählungen ist, der über eine bestimmte gegend und landschaft gebreitet wird. neo rauch spricht bezeichnenderweise von der heimat als einem emotionsteppich. diese erzählungen schnappt man in der kindheit am tisch von geburtstagen, taufen, hochzeiten, schulanfängen, … auf. jeder trägt dazu etwas bei, in beliebiger reihenfolge erzählt jeder immer wieder das gleiche, fast: dasselbe. dort ist heimat, die geschichten, die unsere menschen erzählen, hängen an den straßen, häusern, bäumen, bächen, gärten, wiesen, wäldern, bergen, höhlen, … je älter man wird, desto mehr erfahrungen macht man selber, desto mehr entdeckt man, nicht zuletzt an verschwiegenem, verdrängtem, so dass die widersprüche immer größer werden und der erzählungsteppich immer kleiner wird, immer dünner, immer poröser, immer mehr löcher bekommt er mit der zeit. wir bemerken den teppich erst durch sein schrumpfen und seine löcher und erinnern uns plötzlich, wie groß und dicht und prächtig er in unserer kindheit war. aber man kann die löcher stopfen – und wenn sich die erzählungen, erlebnisse und entdeckungen widersprechen, lass sie sich widersprechen. hier grenzt ein wort ans andre, lass es grenzen, schwärmt ingeborg bachmann über böhmen am meer. die widersprüche machen die heimat nur reicher, die zweifel schärfen ihre kontur. ich streife umher und finde unter jedem stein eine geschichte (und wo nicht: erfind ich eine), in den fichtenwälder lauert hinter jedem stamm ein waldschrat, zwerg, gnom, … (und wo nicht: erfind ich einen). mit den erzählungen fasst man erst richtig fuss und lotet zugleich die tiefe aus (mit den kellern samt den leichen darin, heimat muss nicht heißen: beschönigen, denn dann würde sie wohl mehr beschämen). das erzgebirge als erzählgebirge, schicht um schicht, textschicht um textschicht – wie bei den grafiken von carlfriedrich claus. je tiefer man gräbt, desto mehr bezüge stellen sich her; die widersprüche verknüpfen sich und werden zur signatur.

massen zu organisieren, sagt einer, sei schon gewalt – und trinkt fertigwasser aus einem plastikbecher. ich denke: wieviel gewalt steckt eigentlich in einem plastik-becher? das öl, das blut, der schweiß, der müll.

ich traf k. im leipziger westwerk bei der vorstellung einer ziemlich schrägen veranstaltung (http://westwerk-leipzig.de/newsdetail/items/mauser-und-du-so.html; letzter zugriff: 28.08.09) – hätte ich mal mit krawatte und cordanzug auftauchen sollen … wissenschaft ist genau wie kunst, führe ich aus, ein ritual. (dabei bin ich, seltsamerweise, ganz bei mir, selbst jetzt, während ich dies niederschreibe, ist mir in keiner weise peinlich, was ich sagte.) durch beschränkung auf bestimmte segmente der wirklichkeit und bestimmte verfahrensweisen, durch reduktion versucht man tiefere einblicke zu erlangen, besser zu verstehen. man schickt verschiedene sonden aus in die tiefe der wirklichkeit, die eine sonde heißt wissenschaft, geschichte, soziologie, … physik, eine andere sonde heißt literatur, musik, malerei, … literatur als ritual wäre der ausgangspunkt, die grundlage für eine poetik, was mir im letzten jahr in heidelberg einfiel und ich dort kontrovers diskutierte. – wie ich mich in der leergeräumten, heruntergekommenen, verfallenden halle umsehe, in der die veranstaltung stattfindet, fällt mir ein, auf: wir tragen die ddr in uns. diese halle hat den charme und die ästhetik der orwell-verfilmung von neunzehnhundertvierundachtzig. mir fallen filmsequenzen ein, die ich in gedanken in diese räume projiziere. wende-stücke und gegenwarts-stücke, die darin gespielt werden, um zu vermitteln: wir bewegen uns in strukturen, die wir nicht machten (allenfalls verändern wir sie ein wenig, tapezieren hier und da, brechen ein fenster in die mauer, selten reißen wir eine ganze mauer ein), wir bewegen uns in den hüllen der vergangenheit, wir sprechen mit worten der vergangenheit, wir denken gedanken der vergangenheit: unsere gegenwart ist nie auf der höhe der zeit. selbst wenn wir uns durch eine raumstation hangeln, die über der erde kreist, hangeln wir uns immer noch von baum zu baum durchs urwald-paradies.

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