geträumt: traurig verlasse ich einen verwinkelten, wuchtig-ausgedehnten gebäudekomplex, es regnet, es ist kühl, es ist herbst. ich trage einen beigen mantel; ein leuchtend roter seidenschal strahlt in die welt: ich weiß nicht recht, ob mir der revolutionär-widerständige eindruck, den der schal bei den anderen zu erwecken scheint (wie ich denke), peinlich ist oder ob er mich im gegenteil nicht stolz macht. wie ich aus dem gebäude trete, kommt h., ebenfalls mit einem beigen mantel gedankenversunken bedächtigen schrittes darauf zu. allerdings trägt er den mantel zugeknöpft und hat um den hals einen dunklen (grün, schwarz, blau?) schal gebunden. ich nicke ihm grüßend zu, bin mir aber unsicher, ob er mich gesehen hat. er denkt vermutlich auch (denke ich mir), in meinem fall handele es sich um einen windigen gesellen. das stimmt vielleicht auch. ich habe keine kraft mehr, etwas anderes vorzugaukeln, nicht der welt, nicht mir selbst. ich laufe weiter, freue mich nach hause zu kommen an den schreibtisch, aber mir ist schon klar, dass ich den nachmittag vergeuden werde. h. (denke ich mir) ist bestimmt nur kurz von seinem schreibtisch aufgestanden und zu einer vorlesung, einem seminar gelaufen; seine vorbereitungen hat er im kopf, was den unterschied zwischen uns vergrößert, denn in meinem kopf gibt es nur verwirrende, sich widersprechende gedanken, ein hühnerhof voller aufgescheuchter, verängstigter gedanken (im hintergrund spielt die staatskapelle dresden jean-philippe rameaus la poule, heinrich schütz steht am pult). was ist disziplin? wie verbindet man die freiheit (alles tun oder lassen zu können) mit der pflicht (etwas bestimmtes zu tun)? es regnet weiter. ich überquere eine vierspurige, mäßig befahrene straße; auf einer verkehrsinsel in der mitte, wo ein platz für fußgänger zum warten eingerichtet ist, hockt eine junge frau und sammelt triefend nasse, spitze ahorn- und plantanenblätter, teils noch grün, teils schon bunt. ich spekuliere darüber, warum sie, ausgerechnet bei diesem wetter, so viele blätter sammelt, dass sie beide hände benutzen muss. vielleicht (denke ich mir) verziert sie ihre briefe übers jahr mit genau solchen blättern – oder sie bastelt gerne. ich bin verblüfft: eine junge frau, die in ihrer freizeit nicht tanzen geht und einen mann zu erwischen versucht, sondern bastelt. ich sehe zwar nur ihren gebeugten rücken, auch sie trägt einen beigen mantel, und ihre lockigen dunkelblonden oder sehr hellbraunen haare, aber sie scheint sympathisch und hübsch zu sein, obwohl (oder vielleicht vielmehr weil) sie mit herbstlaub bastelt. sie erinnert mich an melusine, obwohl ich gar keine genaue vorstellung von melusine habe. (ich träume schon von meinen figuren … – wie krank ist das denn?, höre ich d. sich entrüsten.) auf der anderen straßenseite laufe ich zu meinem auto, das in einiger entfernung geparkt steht. der wind lässt mich ein wenig frösteln, mein hals kratzt, meine nase läuft, mein kopf ist dumpf wie bei einer erkältung – eben fühlte ich mich noch wohl, als ich an der blättersammlerin vorüberlief. – der wecker reißt mich aus dem schlaf, von diesem regnerischen straßenrand und ich bin froh darüber, dass mein hals nicht kratzt. – morgen ist september, das macht mich traurig, weil sich meine bilanz in diesem jahr (so scheint mir) bislang auf null beläuft und sich daran nichts ändern wird. im gegenteil.
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Meta
Übereinstimmung: das Sammeln von Ahornblättern im Regen, beidhändig.
Keine Übereinstimmung: Ort, Zeit, Haarfarbe, Alter.
Also: ganz viele Ahornblätter, weil ich bin, die ich bin. Da war oder ist gerade was mit Ahornblättern, oft in leicht abgewandelter Form, sieht man sie in der bildenden Kunst der letzten zwei Jahren einfach häufig. Wie im Moment z.B. auch abstrakte Katzenköpfe, körperlos, in den 60zigern gab’s sowas mal, weiss nicht mehr genau..Haribo? oder sowas.
Die Ahornblätter sind in einen Billigschinken-Kunstbuch gewandert, schön dick nämlich und doch ein blödes Buch, dann eben aufgeblasen durch nasse Ahornblätter, beschwert mit allem, was sich an Gewicht gerade finden liess.. Darauf lag lange eine bemalte Leinwand in genau demselben Format. Irgendwann lagen alle Blätter wochenlang auf dem Gästebett und wollten gesehen sein, landeten als Frauenkopf auf mehreren Collagen, mutiert weiterhin als abstrakte Form, knallgelb wächst sie auf grauem Hintergrund und wird demnächst sich selbst in einem Bild verfremden. Der Rest wartet, sie bastelt nicht wirklich, vielleicht denkt sie, wahrscheinlicher ist es, dass sie einfach spielt. Und es gibt noch ein Bild mit einem Jungen unter einem riesigen Teilahronblatt, das war aber wohl vor der Ahornblattsammelaktion am Strand.
wie schon einmal gesagt: ich kann nichts für die bilder, die mir in den sinn kommen. wobei die frage ist, ob man nicht doch verantwortlich dafür ist, indem man solche eindrücke versucht, in eine widerspruchsfreie, lineare struktur zu transformieren. was war zuerst da: das bild oder die erzählung davon? gibt es zwischen beiden wechselwirkungen? sah ich wirklich eine junge frau in beigem mantel, die mit beiden händen große, spitze ahorn- und plantanenblätter sammelte – oder ist das nur die erinnerung, die interner erzählung von einem bild, für das es keine worte gibt.
bessere plantanenrinden. – im herbst 1960 schickt paul celan ein stück plantanenrinde an nelly sachs und erläutert: „man nimmt es zwischen daumen und zeigefinger, hälts recht fest und denkt sich etwas gutes dazu. aber – ich kanns dir nicht verschweigen – gedichte, zumal deine, sind bessere plantanenrinden.“