abends dachte ich nach der ersten, oberflächlichen lektüre einiger adam-ries-biografien1 über die möglichkeiten und aspekte einer (geschichts-) wissenschaftlichen monographie über das leben des rechenmeisters nach. die darstellung müsste eingebettet sein einerseits in die von humanismus und reformation geprägten intellektuellen und andererseits in die sozioökonomischen strukturen der zeit. letztere wurden, was annaberg als den ort von riesens wesentlichem wirken betrifft, bestimmt vom frühkapitalismus des erzgebirgischen bergbaus, aus dem sich eine vielfältige, differenzierte gewerbelandschaft zu entwickeln begann.
wie in einer versuchskammer zeigten sich hier soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche probleme, die für die moderne seit der industrialisierung charakteristisch sind. das kühle kalkulieren des kaufmanns und der entzauberte blick, den der unternehmer auf die welt wirft, traten wie scheinbar aus dem nichts auf. in all dem geschehen steht adam ries mit seiner rechenschule und seinen rechenbüchern, dessen erstes er schon 1518 ausdrücklich auf deutsch in druck gab, damit es der gemeine mann rezipieren könne – kurz nachdem der theologieprofessor aus wittenberg seine thesen noch in gut spätscholastisch-humanistischer manier auf latein veröffentlicht hatte. zahlreiche aspekte der modernisierung werden hier bereits greifbar – und zwar nicht nur solche, die durch luthers reformation in gang gesetzt wurden, sondern beispielsweise eben auch eine dezidiert unternehmerisch-kapitalistisch geprägte rationalisierung.
zu fragen wäre zum einen nach dem verhältnis von adam ries zum humanismus, inwiefern man ihn etwa als humanisten bezeichnen kann. denn obwohl er im erfurter humanistenkreis um georg stortz wesentliche impulse für seine mathematischen studien erhalten hat, beschreitet er mit seiner orientierung auf arabische zahlen und das federn- oder buchstabenrechnen nun gerade keinen weg ad fontes; er geht vielmehr in der jungen tradition der rechenmeister des späten 15. und frühen 16. jahrhunderts schritte in eine ganz neue richtung. dieser aspekt scheint mir im zusammenhang mit dem intellektuellen, humanistischen umfeld bislang noch gar nicht recht erörtert worden zu sein.
zum anderen muss meines erachtens für die bergbau- und gewerbelandschaft des sächsischen (west-)erzgebirges einmal ganz ausdrücklich nach modernisierungselementen jenseits der lutherischen reformation und deren gesellschaftlichen implikationen gefragt werden. blieb die rationalisierung von lebensführung und weltwahrnehmung, die aus dem geist des (bergbau-) unternehmertums entsprungen war, tatsächlich folgenlos, verschwand sie gar wieder während des niedergangs der silberproduktion im weiteren verlauf des reformationsjahrhunderts und machte der kulturellen wirkung des luthertums ganz und gar platz – oder verband sie sich damit auf eine eigene besondere weise?
kann man die anpassungsstrategien der erzgebirgischen bevölkerung in der depression des montanwesen während des 17. jahrhunderts nicht auch als eben durch und durch moderne krisenreaktionen betrachten? im erzgebirge gab es keine hauptsächlich bäuerlich geprägte bevölkerung wie in weiten teilen des restlichen alteuropas, vielmehr befand sie sich meistenteils entweder mittelbar oder unmittelbar in durch lohnarbeit geprägten arbeitsverhältnissen – und blieb es auch nach der hausse im bergbau. zudem war die trennung zwischen stadt und land nie so scharf, wie man es aus der vor- und frühmoderne gewohnt ist; bergleute lebten auf dem dorf und fragten verschiedene gewerbe nach, während die bewohner der bergstädte zu großen teilen zumindest teilweise landwirtschaft betrieben. die bevölkerung wanderte in den niedergangsphasen des bergbaus nicht ab, das erzgebirge blieb eine dicht besiedelte region, auch wenn wie im falle annabergs oder joachimsthals gewisse bevölkerungsspitzen nie mehr oder erst im laufe der letzten einhundertfünfzig jahre wieder erreicht wurden. es lebten seit der massenhaften zuwanderung im zuge des spätmittelalterlichen berggeschreis ab 1477 stets mehr menschen im gebirge, als von der dortigen landwirtschaft ernährt werden konnten; während der gesamten frühen neuzeit mussten nahrungsmittel in beträchtlichem umfang eingeführt werden – was bei missernten in den erzeugergebieten häufig zu hungerkrisen im erzgebirge führte, insbesondere zu beginn des 18. jahrhunderts und nochmals anfang der 1770er jahre.
trotz der zeitweise sprichwörtlichen armut der gebirgsbevölkerung gab es aber offensichtlich ein hohes maß an innovationspotential. es stellt sich daher die frage, welchen einfluss die frühe form des kapitalismus mit ihren rationalisierungselemten und ihrem anpassungs-und innovationsdruck darauf hatte. daneben scheint das selbst für kursachsen ungewöhnlich dichten niederen schulwesen beträchtliche auswirkungen auf die fähigkeit der bevölkerung vor ort gehabt zu haben, mit wirtschafts- und erwerbskrisen umzugehen.
den nukleus für all diese entwicklungen bildet jedoch die erste hälfte des 16. jahrhunderts – und dort sind insbesondere figuren wie adam ries in den blick zu nehmen, die entweder jenseits eines streng und eng philologisch orientierten humanismus standen oder die, wie etwa, nomen est omen: georgius agricola, zwar humanistisch gesinnt und geprägt waren, aber ihren geist offen hielten für die realien von ökonomie und montanwesen, deren fragen und probleme ihnen in den bergstädten vor augen standen.
anders ausgedrückt wäre zu fragen, inwiefern der humanismus im erzgebirge oder besser die humanisten im erzgebirge durch ihr umfeld und ihre tätigkeit (adam ries als „bergmann von der feder“; georgius agricola als stadtarzt in joachimsthals, der sich bergleuten gegenüber sah, die von der so genannten „joachimsthaler“ oder „schneeberger krankheit“ befallen waren) zur auseinandersetzung mit themen angehalten oder nachgerade gezwungen waren, die wenig, ja gar nichts mit der philologisch inspirierten und teils theologisch begründeten hinwendung zu den texten der antike gemein hatten – sondern schlicht gänzlich neuen typs waren.
ganz abgesehen von diesen historiografischen erörterungen, erinnerte ich mich an die imaginationen, die mir während meines jüngsten besuchs im adam-ries-museum in den sinn gekommen waren – als ich etwa vom kauf des hauses in der annaberger altstadt oder vom späteren erwerb der so genannten riesenburg2 las: adam ries heiratet, gründet einen hausstand und wird bürger sankt annabergs …
ich fragte mich, wie ein historischer roman oder, genauer gesagt: wie die fiktionalisierung eines historischen stoffes aussehen müsste, um auf der höhe der zeit zu sein. wie sieht ein postmoderner historischer roman aus – wenn das nicht ein widerspurch in sich selbst ist. was heißt überhaupt historischer roman? kann man texte wie etwa thomas manns josefsroman, alfred döblins wallenstein, christa wolfs kassandra oder martin walsers goetheroman überhaupt mit dieser kategorie fassen? mir fehlt ein germanistisch-literaturwissenschaftlich versierter gesprächspartner, mit dem ich solcherlei fragen erörtern kann, unbefangen erörtern kann. aber man muss immer vorgeben, klüger und belesener zu sein, als man tatsächlich ist. es ist ein kreuz: die eigene eitelkeit steht dem erkenntnisdrang im weg.
bei historischen stoffen ist es nur offensichtlicher, aber im kern besteht mein problem beim fiktionalisieren in dem umstand, sich zu einer erzählhaltung aufraffen zu müssen, von der man einerseits ganz genau weiß, dass sie keinerlei berechtigung hat, deren erzählung man aber selbst in der erwartung und annahme liest, die erzählende instanz sei legitimiert zur erzeugung einer fiktion. ich kann kein szenario entwickeln, das in sich geschlossen und widerspruchsfrei ist, das eine welt aufscheinen lässt mit einer geste, als sei es die wirklichkeit. da stehen mir einerseits meine, hoch gesprochen: erkenntnistheoretische überzeugung und andererseits mein pädagogisch-aufklärerischer impetus im weg, nach kräften beizutragen zur, noch einmal hoch gesprochen: dekonstruktion von mythen. eine fiktion, die ihren charakter als fiktion verschleiert, so dass man meint, so sei es, oder im falle von historischen stoffen, so sei es einst gewesen, hemmt eher die aufklärung als sie zu fördern.
die ästhetische herausforderung besteht darin, eine fiktion zu kreieren (sic!), die sich einerseits sozusagen ihrer fiktionalität bewusst ist, ihres spielcharakters („so tun als ob“), die also gebrochen und widersprüchlich ist – und die andererseits trotzdem lesbar bleibt, sodass das drama, das ihr innewohnt, für den leser greifbar bleibt. wie verkleidet man so eine intellektuelle pirouette in einer – geschichte? eingedenk thomas bernhards geht es um die reduktion auf innere vorgänge – die seitenweite beschreibung der beschaffenheit eines vorgartens ist unerheblich. das tendiert zu einer auflösung der fiktion hin zum essay, wo allenfalls noch mit ein paar wenigen strichen wie bei einer tuschezeichnung eine welt angedeutet wird, während aber schon das papier durchscheint und die fiktion deutlich wird. die andere möglichkeit besteht darin, die fiktion derart fabel-haft auszumalen, dass sie sich durch diese übertreibung ent-larvt. reduktion oder übertreibung, vielleicht bestenfalls noch eine mischung aus beidem, um den spielcharakter noch stärker herauszustreichen – mehr grundsätzliche alternativen scheinen mir nicht zu bestehen.
1 hans wußing, adam ries, 3., bearbeitete und erweiterte auflage, leipzig 2009; friedrich naumann, die historische entwicklung des erzgebirgischen bergbaus und adam ries als ‚bergmann von der feder‘, in: jürgen kiefer/karin reich (hrsg.), gemeinnützige mathematik. adam ries und seine folgen, erfurt 2003, s. 55-88. – soweit ich es bislang überblicke, gibt es keine biografische monographie, die den ansprüchen der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen forschung genügen würde; was vorliegt, sind entweder untersuchungen im geiste der historiografie des 19. jahrhunderts oder enggeführte detailstudien wirtschafts- oder mathematikgeschichtlicher natur. es fehlt eine darstellung des rechenmeisters, die ihn, um mit hartmut zwahr zu reden, als figur in den strukturen ihrer zeit in den blick nimmt.
2 beim stichwort „riesenburg“, ja selbst wenn ich an dem gehöft zuweilen vorüberfahre, erinnere ich mich, wie mein großvater, sechzig, siebzig jahre nachdem er sie gelernt hatte, chamissos ballade vom riesenspielzeug vollständig zitierte (was eben „vollständig“ so alles einschließt – gewiss): burg niedeck ist im elsaß der sage wohlbekannt, / die höhe, wo vor zeiten die burg der riesen stand; / … – als ich sie eben noch einmal komplett las, bemerkte ich, wie passend sie zur blut-und-boden-rhetorik im dritten reich passte: die bauern („der nährstand“) ernährt die riesen, die ihrerseits vom dem bauernstand herstammen – schade nur, dass der autor selber ein welscher ist, dessen familie vor der revolution ins behaglich-konservative preußen floh und der erst dort die sprache lernte, in der er fortan schrieb und reimte.