mir träumte, ich sah meinen großvater mit seiner letzten kuh lore, die den kastenwagen zog. die kuh sah sehr alt und ausgemergelt aus, sie quälte sich, den wagen zu ziehen. ich fragte mich, wie lang die kuh noch leben würde – und was geschähe, wenn sie eines tages stürbe: ob mein großvater eine neue kuh kaufte oder ob er die kleine landwirtschaft ganz aufgäbe. aber eine neue kuh müsste erst wieder daran gewöhnt werden, einen wagen oder einen pflug zu ziehen. und außerdem müsste die landwirtschaft auch in dem fall fortgeführt werden, wenn die neue kuh meinen großvater überleben sollte, was sehr wahrscheinlich wäre, denn es wäre eine respektlosigkeit, die kuh zum schlachter zu geben, kaum dass der großvater beerdigt worden wäre. aber wer sollte die landwirschaft weiterführen?
da fiel mir, noch im traum ein, dass lore schon vor über zehn jahren zum schlachter gebracht worden war und mein großvater auch schon fünf jahre tot ist. diese erkenntnis befreite mich aber keineswegs von meinen sorgen, denn einmal wurde mir deutlich, dass die generationenkette der kühe, die mein großvater und meine erzgebirgischen urgroßväter besaßen, endgültig abgerissen ist; zuweilen frage ich mich zudem, wie lore wohl ihre letzte stunden erlebt hat, mir stehen immer noch die bilder vor augen, wie sie zum letzten mal aus dem stall und über den hof geführt wurde – dieser vorgang scheint mir immer wie ein treuebruch gegenüber dem treuen tier und wie ein ungehöriger modernisierungsakt, bei dem man sich von der herkunft und vergangenheit löst, indem man alte dinge wegwirft. als heranwachsender schämte ich mich immer für die tiere, als röche ich nach ihnen und als unterstrichen sie meine unattraktive bravheit, meine naive weltunerfahrenheit, meine rückständigkeit in jeder hinsicht – und zugleich berührte mich der anblick einer kuh, die einen schweren heuwagen zog. die arbeit auf dem feld, das legen und das lesen der kartoffeln, das heuernten, das grasholen erfüllten mich mit stolz, während ich es tat. noch heute berührt mich der anblick der kuh und heute freue ich mich nicht nur, diese archaische form alteuropäischer landwirtschaft miterlebt zu haben, heute reut es mich, dass ich mich dessen schämte, als ich zur schule ging. ich wünsche mir nicht allein, ich hätte mehr zeit mit den tieren zugebracht und genauer beobachtet, ich sehne mich in gewisser weise nach dieser art selbstversorgungslandwirtschaft, weil ich mir einbilde, ich könnte aus dem umstand, feldfrüchte anzubauen und tiere zu halten, eine art daseinsberechtigung ziehen, weil ich nicht abhängig wäre vom wohlwollen der ämter und ihrer insassen, weil ich aber auch meiner umgebung demonstrieren könnte, mein leben selbst in der hand zu haben.
vielleicht sehne ich mich auch danach, weil ich auf diese weise einer bestimmten form von männlichkeit entsprechen würde, keinen mangel und keine unzulänglichkeit empfände und dadurch die freiheit gewänne, ganz bei mir sein zu dürfen. ein hinterwäldlerischer erzgebirgler, der seine kuh aufs feld treibt – und wenn du ihn ansprichst, hält er dir einen stehgreifvortrag über die bildungslandschaft mitteldeutschland oder über die industrialisierung böhmens oder über die notwendigkeit des pluralismus. ein unscheinbarer kleinintellektueller, der hinter seinem rechner in einer bibliothek oder in einem archiv sitzt – und wenn du ihn ein stück begleitest, siehst du ihn seine kuh aufs feld treiben. ich habe nie allein eine kuh vor einem wagen geführt, nicht auf dem feld und schon gar nicht durch die straßen der stadt, die erfahrung erscheint mir aber in der rückschau immens bestätigend zu sein, denn was wäre wohl eine stärkere selbstwirksamkeiterfahrung, als eine kuh vor einem hochbeladenen heuwagen durch eine kleinstadt zu führen? als mir, noch im traum bewusst wurde, nicht nur die kuh ist längst gestorben, sondern auch der großvater, sah ich mich auch wieder der unumstößlichen tatsache gegenüber, dass ich ihn nichts mehr fragen kann, dass alle seine erinnerungen, die er mir noch hätte mitteilen, nach denen ich hätte fragen können – alle, alle verloren sind und ich mich an meine eigene erinnerung halten muss, daran halten muss, was er erzählte, so wie es mir noch im ohr und im gedächtnis ist. dieses ohnmachtsgefühl, bestimmte menschen nicht mehr befragen zu können, erlebenisse aus für mich unzugänglichen vergangenheiten nicht mehr zu erfahren und aufzubewahren, so gut es mir gelingt, dieses ohnmachtsgefühl überfällt mich regelmäßig in bösen träumen und lässt mich ein wenig traurig, ein wenig verzweifelt zurück.