als ich die daten, die ich gestern aus den kirchenbüchern in j. entnahm, in den zettelkasten übertrug, stellte ich fest, dass der morgenstern-urgroßvater meines morgenstern-urgroßvaters am 27. mai 1848 gestorben war. nachdem ich kurz nachgeschlagen hatte, wann die nationalversammlung in frankfurt zusammengekommen war und demzufolge die wahlen dazu ungefähr stattgefunden haben mochten, konnte ich davon ausgehen, dass er der erste meiner morgenstern-vorfahren war, der an einer (halbwegs) freien wahl teilgenommen hatte, teilnehmen konnte – kurz bevor er starb. das ist in zweierlei hinsicht bemerkenswert: zum einen angesichts der tatsache, dass er vier jahre vor der revolution in frankreich geboren wurde, also noch ein kind des ancien regimes war – und zum anderen, wenn man bedenkt, dass der enkel seines enkels erst siebzig jahre alt werden musste – die biblische spanne eines menschenlebens – ehe er am 18. märz 1990 zum ersten mal in seinem leben an freien wahlen teilnehmen konnte, wo er doch im selben jahr geboren wurde, in dem die verfassung von weimar geltung erlangte. in das individuelle heruntergebrochen und bezogen auf die dimensionen eines menschenalters lässt sich die tragik erst richtig ermessen, die in der weitläufigkeit jenes „langen wegs nach westen“ liegt: selbst ich als urenkel des urenkels jenes 1848 gestorbenen christian andreas bin noch in unfreien verhältnissen geboren worden – oder zumindest in solchen verhältnissen, die niemand freiheitlich zu nennen vermag.
erst kürzlich kam mir beim einschlafen in den sinn, mich der neueren geschichte seit der französischen revolution, also dem langen neunzehnten und dem kurzen zwanzigsten jahrhundert, im modus der familiengeschichte anzunähern. so verhelfe ich mir zu einem standpunkt, der zwar womöglich leichter anzufechten ist als eine streng wissenschaftliche perspektive, der aber zugleich auch leichter zu rechtfertigen zu sein scheint. jedenfalls gelange ich auf diese weise zu einer motivation, die sich gleichsam selbst erneuert und die es mir ermöglicht, mich kundig zu machen. zugleich bin ich überzeugt, dass ich zu einsichten komme, die weniger subjektiv sind, als es so ein individueller familiengeschichtlicher zugriff erscheinen lässt. beispielsweise ist mit der aktuellen beobachtung beim eintrag in den zettelkasten die frage verbunden, wie das wahlprozedere zur frankfurter nationalversammlung in sachsen und im erzgebirge aussah und welcher abgeordnete gewählt wurde. die antworten darauf wiederum können die grundlage für einen beitrag zur demokratisierungsgeschichte des erzgebirges, zur geschichte der erzgebirgischen zivilgesellschaft bilden. so berühren sich das große und das kleine.
t. b. hat mich unlängst auf die aktivitäten des vereins borussia aufmerksam gemacht, der die beschäftigung mit der regionalen identität in ostpreußen und mit der dortigen landesgeschichte zum anlass nimmt, die zivilgesellschaft in der gegenwart zu stärken. in gewisser weise, so ging mir auf, ist es mir mit dem erzgebirge in seinem mitteldeutschen-mitteleuropäischen rahmen um dasselbe zu tun: aus der auseinandersetzung mit der vergangenheit der gegend impulse zu erzeugen für die entwicklung und pluralisierung ihrer zivilgesellschaft in der gegenwart auf die zukunft hin.
der neueren geschichte kann ich nicht mit der nüchternen gelassenheit eines gelehrten entgegentreten, weil mich ihre verwicklungen unmittelbar berühren – das ist der unterschied zur frühen neuzeit. zwar sind meine fragestellungen dort auch wesentlich bestimmt von meiner regionalen herkunft, aber das erkenntnisleitende interesse ist weitaus objektiver: es geht um die regionale identität als invented tradition, um den zusammenhang von bildungs- und wirtschaftsgeschichte im hinblick auf innovation, industrialisierung und lokale strategien zur bewältigung ökonomischer krisen, schließlich um die dekonstruktion borussisch geprägter sächsicher landesgeschichtsschreibung. seit einiger zeit kommt noch eine lesart der böhmischen geschichte als ostmitteleuropäischer gesellschaftlicher modernisierung hinzu, die zwar immer wieder gescheitert ist, doch aber nie so ganz. mit dieser letzten, jüngsten perspektive relativiert das dogma eines west-östlichen entwicklungs- und fortschritsgefälles doch ganz erheblich.
in meinen abendstunden träume ich zuweilen von einer republik im zentrum europas um prag herum, einer republik wie derjenigen der vereinigten niederlande oder der schweizer eidgenossenschaft. mir will diese alternative aus dem jahr 1618 als die bessere, glücklichere für das erzgebirge und für sachsen erscheinen. zumindest wäre christian andreas damit womöglich nicht der erste gewesen in der familie, der die möglichkeit hatte, an einer freien wahl teilzunehmen.
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Meta
es ist nicht weiter verwunderlich, dass alexander kluges arbeiten meine sympathie gilt und ich viele anregungen daraus entnehme: „je länger man lebensläufe verfolgt und je neugieriger man ihren verzweigungen nachgeht, desto unvermeidlicher verlässt man die regionen der zeitgeschichte und landet im alten reich, im alten europa. der ‚fluss der gene‘ der familiengeschichte kluges führt vom alten europa in die jetztzeit. die ‚lebensläufe‘ sind nicht zuletzt ein akt der wiederaneignung der von den nationalsozialisten instrumentalisierten ahnenforschung. sie machen sie zum medium der aufklärung.“(lothar müller, die wirklichkeit ergänzen …, in: sz vom 18.02.12, s. 14).
eben wurde ich aufmerksam auf moritz pfeiffers buch über dessen großvater im zweiten weltkrieg (mein großvater im krieg 1939-45, bremen 2012, rezension dazu von pieke biermann: der krieg in der eigenen familie, in: deutschlandradio kultur vom 06.09.12, url: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1859280/, letzter zugriff: 07.09.12).
das buch bringt die beiden perspektiven zusammen, deren verknüpfung mir bei der annäherung an das 20. jahrhundert und beim tieferen, genaueren verständnis seiner zeitläufte geeignet, ja notwendig erscheint: die „große“ geschichte und die regionale, lokale, ja: familien-geschichte.
bei den jahrgängen, die am ende des ersten großen krieges geboren wurden und die zu beginn des zweiten gerade so alt waren, dass sie gleich eingezogen werden konnten und sich zur deportation ihrer altersgenossen und deren familien heranziehen ließen, stellt sich die frage: wie wahrscheinlich war es, dass sie in der gewaltmaschinerie des jahrhunderts wenn nicht ganz zerrieben, so doch verkrüppelt werden würden?
unwillkürlich verändert sich die frage in eine gegenwärtige: wie kann man sich entziehen?
aber ist das nun: geschichtswissenschaft oder betroffenheitsseligkeit – um die abgründe, die „welthölle“ nicht aushalten zu müssen, sondern ihr gewissermaßen nachträglich entgegentreten zu können?
geschichte sei, dozierte in der mitte dieses jahrhunderts johan huizinga, der je eigene versuch einer gegenwart, über sich selbst aufschluss zu erlangen. dessen muss sich geschichtswissenschaft bewusst sein. es geht also nicht darum, auszumitteln, wie es denn eigentlich gewesen ist, denn das weiß weder der zeitgenosse noch der nachgeborene, es geht darum, wie woran warum sich erinnert wird. (freilich notwendig dazu ist die kenntnis der erinnerungen einer gegenwart und gegebenenfalls weiterer erinnerungen: das ist dann so etwas wie das bild vergangener wirklichkeiten).
der historiker ist gewissermaßen ein professioneller erinnerer: er erinnert sich mithilfe der erinnerungen seiner zeitgenossen und der altvorderen und er bedenkt diese erinnerungen und dieses erinnern. und das wiederum ist fast ein familienroman, dessen titel lauten könnte: wie gelangt man durchs zwanzigste jahrhundert?