von dem französischen völkerkundler und schriftsteller michel leiris heißt es, er treibe „selbstethnografie“ in seinem journal, das zu den „exzessivsten dokumente der bekenntnisliteratur im 20. jahrhundert“ zähle.

in der literaturbeilage der zeit wird tellkamps buch beschrieben als „ein neues nationalepos, ein großer abendspaziergang in der dämmerung der ddr“. mit der benennung „epos“ sollte man grundsätzlich vorsichtig sein.

claude lévi-strauss wird einhundert:

ich höre dauernd [radio], genauer gesagt, es läuft ständig, während ich arbeite. es ist eine art schutzschirm zwischen der außenwelt und mir. (…) aber musik im hintergund ist für mich fast lebensnotwendig.

dieser pessimismus, scheint mir, gibt dem optimismus die größte chance, denn nur wenn wir sehr pessimistisch sind, werden wir uns der lauernden gefahren bewusst. nur wenn wir pessimistisch sind, werden wir den mut zu den nötigen lösungen finden. dann können wir uns vielleicht wieder eine bescheidene dosis optimismus erlauben.

mir scheint, dass es nur ein mittel gibt, diesem teufelskreis zu entkommen und diesen gefahren vorzubeugen, nämlich zu bedenken, dass der mensch ein lebewesen und damit auch ein leidendes wesen ist, noch bevor er ein denkendes wesen ist.

einige völker glauben sogar, dass das lebenskapital, das den menschen zur verfügung steht, eine begrenzte masse ist. und jedes mal, wenn von einer art zuviel weggenommen wird, muss man mit dem eigenen dafür zahlen.

die tatsache, dass etwa die indianer nordamerikas eine ökologische kontrollfunktion in ihr glaubenssystem eingebaut haben, lässt darauf schließen, vermutlich ein kurzschluss, aber gleichviel, dass sie mit krisen infolge übermäßiger resourcennutzung zu kämpfen hatten. man könnte daraus folgern, dass sich der mensch prinzipiell an eine resourcenschonenende lebensweise anpassen kann. es fragt sich nur, wie bitter die erfahrungen sein müssen, die dieser anpassungsleistung vorauszugehen haben. schlichte ein- und weitsicht scheint mir nicht auszureichen. insofern ändert sich nichts an meinem pessimismus.

lévi-strauss sympathisierte mit dem sozialismus und strebte zeitweilig sogar ein politisches amt an, beim wahlkampf dafür jedoch erlitt er einen autounfall, schied aus und wandte sich wieder seinen studien zu. man könnte nun etwa mit jünger meinen, hier habe eine macht eingegriffen, ich zögere zu schreiben: der weltgeist, denn was verstehe ich schon von hegel, und ihn vor einer laufbahn bewahrt, die ihn in die fährnisse des 20. jahrhunderts geführt hätte; er hatte anderes zu tun. aber das ist natürlich nur ein sinnstiftungsversuch bei der betrachtung des kontingenten spiels der möglichkeiten.

radio macht klug, fernsehen macht dumm. denn worte, die wir lesen und hören, werden in individuelle bilder umgesetzt. unser gehirn wird aktiv zum arbeiten aufgefordert (margarete mitscherlich). – ich wollte nie um mich selbst kreisen. ich wollte schreiben, und das heißt auch: leid transformieren (julia franck; aus einem gespräch der beiden frauen in der aktuellen literaturbeilage der zeit).

der moderne dichter, wie ich ihn verstehe, ist wie der dom-baumeister; er ist damit, wie diejenigen, die sich aufmachten, kap hoorn zu umsegeln oder einen seeweg nach indien zu finden, zwangsläufig pathetisch – was er in kauf nehmen kann, wenn es ihm gelingt, die grundlegenden menschlichen empfindungen wieder zu gestalten (uwe tellkamp in einem interview). sage ich: dome und indien. ich kreise um den turm sankt annens – und weiß noch nicht, was ich bin; ich stehe auf dem kamm des erzgebirges bei boží dar, sehe nach norden richtung leipzig, lübeck und baltischem meer, sehe nach süden richtung prag, venedig und adriatischem meer, die andere nord-süd-tangente europas, weit weg von flandern, schwaben und savoyen, ich denke an böhmen, polen, litauen, die ukraine, jenem land an der grenze, venedig heißt morgenlandfahrt, byzanz und der kranke mann am bosporus, kathai-indien, zipangu-china, wohin man auch aus lübecks vorgängerstadt haithabu kam, über das flusssystem russlands, weißrusslands, der ukraine und schließlich übers schwarze meer nach byzanz oder trapezunt oder gleich über die kolchis nach persien. nicht nur wikinger-waräger und marco polo nahmen eine dieser routen, sondern etwa auch der leipziger theologe, philosoph und dichter adam olearius mitten im dreißigjährigen krieg. mein dom, mein turm heißt sankt annen und liegt am westhang des pöhlbergs, mein kap hoorn, der orientierungspunkt auf der indienfahrt, wäre dann wohl der ararat. eine provinz gewiss irgendwo auf asiens zerfranstem subkontinent europa, aber ich hole die welt dorthin, blende sie in die fichtenwälder und vermute hinter jedem basaltbrocken in der landschaft einen elefanten oder wenigstens ein reisfeld mit wasserbüffelgespann.

Dieser Beitrag wurde unter erzgebirge, europa, leipzig, mitteldeutschland, mitteleuropa, poetik, welt veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu

  1. philipp sagt:

    hallo, gibt es für dieses zitat

    (dieser pessimismus, scheint mir, gibt dem optimismus die größte chance, denn nur wenn wir sehr pessimistisch sind, werden wir uns der lauernden gefahren bewusst. nur wenn wir pessimistisch sind, werden wir den mut zu den nötigen lösungen finden. dann können wir uns vielleicht wieder eine bescheidene dosis optimismus erlauben.) auch eine französische Version?

    Vielen Dank!

    Ph.

  2. philipp sagt:

    Habe das Zitat bereits gefunden:

    « Ce pessimisme me paraît être, après tout, offrir à l’optimisme sa meilleure chance parce que c’est à la condition d’être très pessimistes que nous prendrons conscience des dangers qui nous menacent, c’est à la condition d’être très pessimistes que nous aurons le courage d’adopter les solutions nécessaires et que donc, peut-être, nous pourrons recommencer à avoir une certaine dose d’optimisme, disons, modéré. »

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert